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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Belfast, der französische Kapuziner von Draney, der Rattenfänger von Hammeln'?
Er ist kein Anderer als der Todtengott der arischen Völker, der Entführer
der Seelen. Er ist derselbe, der im Hörselberge bei Eisenach als "der Alte"
die Abgeschiedenen um sich sammelt und an der obern Saale, hier als gött¬
liche Frau aufgefaßt, die wimmelnde Schaar der jung gestorbenen Kinder in
gewissen Nächten durch das Thal führt. Er ist der Pluton der Griechen,
der die junge Kore auf der Wiese bei Eleusis ergreift und durch die Berg¬
schlucht mit sich in die Unterwelt hinabreißt, er ist die Idee, die sich in anderer
Weise im Hermes Psychopompos desselben Volkes des Alterthums verkörpert
hat. Er ist der finstre Jama der Religion, die im Siebenströme-Lande In¬
diens blühte, als Europa noch keine Geschichte hatte.

Wenn der Todtengott in unsrer zur Sage gewordenen Mythe in Hameln
wie in Drancy in der burlesken Gestalt eines Ratten- und Mäusefängers
auftritt, so ist daran zu erinnern, daß die todten Seelen in unsern Sagen
häufig als Mäuse auftreten. Ein Beispiel ist die Erzählung vom Bischof
Hatto, ein anderes die von dem Schlafenden, dem die Seele als Maus aus
dem Munde läuft. Das rasche Hinhuschen, das plötzliche Erscheinen und
Wiederverschwinden dieser Thiere, ihr Wohnen in der Erde, ihre schattenhaft
graue Farbe, ihr unheimliches Gewimmel in Mausejahren mag diesen Ver¬
gleich an die Hand gegeben haben. Ursprünglich wird die Sage dahin ge¬
gangen sein, daß die todten Seelen dem Entführer wie ein Gewimmel von
Mäusen in seinen Berg .folgten. Später zerging diese Vorstellung in zwei
Hälften, in deren erster wirkliche Mäuse und dann auch Ratten, deren Muh¬
men, figurirten und der Tod zum Kammerjäger wurde, der nur durch sein
geheimnißvolles, zauberhaftes Wesen noch das ahnen ließ, was er eigentlich war.

Wenn der Wuotan, der Pluton, der Jama. der den innersten Kern des
Rattensängers bildet, die Todten als Spielmann entführt, so liegt in dieser
Anschauung derselbe grimme Humor, der die Todtentänze von Dresden und
Basel entstehen ließ. Uebrigens aber haben unsre alten deutschen Götter auch
sonst sich gefallen lassen, im Volksmunde der christlichen Zeit allmählig ganz
andere Attribute und Eigenschaften anzunehmen, als ihre ursprünglichen, und
nicht selten sind sie bei dieser Verwandelung lustige Gesellen, komische Käuze,
ja vollständige Karikaturen geworden.

In unsrer politischen Zeit muß Alles sein politisches Zipfelchen haben. Ich
füge mich diesem Brauche, und so sage ich denn: Wie der ewige Jude in
gewissen Zetträumen wieder erscheint, so kam auch der Rattenfänger von
Hameln vor einigen Jahren wieder, und abermals nicht ohne Erfolg. Er
trat als Werber für die Welfenlegion auf und ließ seine silberne Pfeife
durch die ganze Provinz Hannover erschallen. Viele oder doch zu Viele für
den gesunden Menschenverstand, den die Hannoveraner gern an sich gelobt


Grenzboten II. 187S. , g4

Belfast, der französische Kapuziner von Draney, der Rattenfänger von Hammeln'?
Er ist kein Anderer als der Todtengott der arischen Völker, der Entführer
der Seelen. Er ist derselbe, der im Hörselberge bei Eisenach als „der Alte"
die Abgeschiedenen um sich sammelt und an der obern Saale, hier als gött¬
liche Frau aufgefaßt, die wimmelnde Schaar der jung gestorbenen Kinder in
gewissen Nächten durch das Thal führt. Er ist der Pluton der Griechen,
der die junge Kore auf der Wiese bei Eleusis ergreift und durch die Berg¬
schlucht mit sich in die Unterwelt hinabreißt, er ist die Idee, die sich in anderer
Weise im Hermes Psychopompos desselben Volkes des Alterthums verkörpert
hat. Er ist der finstre Jama der Religion, die im Siebenströme-Lande In¬
diens blühte, als Europa noch keine Geschichte hatte.

Wenn der Todtengott in unsrer zur Sage gewordenen Mythe in Hameln
wie in Drancy in der burlesken Gestalt eines Ratten- und Mäusefängers
auftritt, so ist daran zu erinnern, daß die todten Seelen in unsern Sagen
häufig als Mäuse auftreten. Ein Beispiel ist die Erzählung vom Bischof
Hatto, ein anderes die von dem Schlafenden, dem die Seele als Maus aus
dem Munde läuft. Das rasche Hinhuschen, das plötzliche Erscheinen und
Wiederverschwinden dieser Thiere, ihr Wohnen in der Erde, ihre schattenhaft
graue Farbe, ihr unheimliches Gewimmel in Mausejahren mag diesen Ver¬
gleich an die Hand gegeben haben. Ursprünglich wird die Sage dahin ge¬
gangen sein, daß die todten Seelen dem Entführer wie ein Gewimmel von
Mäusen in seinen Berg .folgten. Später zerging diese Vorstellung in zwei
Hälften, in deren erster wirkliche Mäuse und dann auch Ratten, deren Muh¬
men, figurirten und der Tod zum Kammerjäger wurde, der nur durch sein
geheimnißvolles, zauberhaftes Wesen noch das ahnen ließ, was er eigentlich war.

Wenn der Wuotan, der Pluton, der Jama. der den innersten Kern des
Rattensängers bildet, die Todten als Spielmann entführt, so liegt in dieser
Anschauung derselbe grimme Humor, der die Todtentänze von Dresden und
Basel entstehen ließ. Uebrigens aber haben unsre alten deutschen Götter auch
sonst sich gefallen lassen, im Volksmunde der christlichen Zeit allmählig ganz
andere Attribute und Eigenschaften anzunehmen, als ihre ursprünglichen, und
nicht selten sind sie bei dieser Verwandelung lustige Gesellen, komische Käuze,
ja vollständige Karikaturen geworden.

In unsrer politischen Zeit muß Alles sein politisches Zipfelchen haben. Ich
füge mich diesem Brauche, und so sage ich denn: Wie der ewige Jude in
gewissen Zetträumen wieder erscheint, so kam auch der Rattenfänger von
Hameln vor einigen Jahren wieder, und abermals nicht ohne Erfolg. Er
trat als Werber für die Welfenlegion auf und ließ seine silberne Pfeife
durch die ganze Provinz Hannover erschallen. Viele oder doch zu Viele für
den gesunden Menschenverstand, den die Hannoveraner gern an sich gelobt


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[0509] Belfast, der französische Kapuziner von Draney, der Rattenfänger von Hammeln'? Er ist kein Anderer als der Todtengott der arischen Völker, der Entführer der Seelen. Er ist derselbe, der im Hörselberge bei Eisenach als „der Alte" die Abgeschiedenen um sich sammelt und an der obern Saale, hier als gött¬ liche Frau aufgefaßt, die wimmelnde Schaar der jung gestorbenen Kinder in gewissen Nächten durch das Thal führt. Er ist der Pluton der Griechen, der die junge Kore auf der Wiese bei Eleusis ergreift und durch die Berg¬ schlucht mit sich in die Unterwelt hinabreißt, er ist die Idee, die sich in anderer Weise im Hermes Psychopompos desselben Volkes des Alterthums verkörpert hat. Er ist der finstre Jama der Religion, die im Siebenströme-Lande In¬ diens blühte, als Europa noch keine Geschichte hatte. Wenn der Todtengott in unsrer zur Sage gewordenen Mythe in Hameln wie in Drancy in der burlesken Gestalt eines Ratten- und Mäusefängers auftritt, so ist daran zu erinnern, daß die todten Seelen in unsern Sagen häufig als Mäuse auftreten. Ein Beispiel ist die Erzählung vom Bischof Hatto, ein anderes die von dem Schlafenden, dem die Seele als Maus aus dem Munde läuft. Das rasche Hinhuschen, das plötzliche Erscheinen und Wiederverschwinden dieser Thiere, ihr Wohnen in der Erde, ihre schattenhaft graue Farbe, ihr unheimliches Gewimmel in Mausejahren mag diesen Ver¬ gleich an die Hand gegeben haben. Ursprünglich wird die Sage dahin ge¬ gangen sein, daß die todten Seelen dem Entführer wie ein Gewimmel von Mäusen in seinen Berg .folgten. Später zerging diese Vorstellung in zwei Hälften, in deren erster wirkliche Mäuse und dann auch Ratten, deren Muh¬ men, figurirten und der Tod zum Kammerjäger wurde, der nur durch sein geheimnißvolles, zauberhaftes Wesen noch das ahnen ließ, was er eigentlich war. Wenn der Wuotan, der Pluton, der Jama. der den innersten Kern des Rattensängers bildet, die Todten als Spielmann entführt, so liegt in dieser Anschauung derselbe grimme Humor, der die Todtentänze von Dresden und Basel entstehen ließ. Uebrigens aber haben unsre alten deutschen Götter auch sonst sich gefallen lassen, im Volksmunde der christlichen Zeit allmählig ganz andere Attribute und Eigenschaften anzunehmen, als ihre ursprünglichen, und nicht selten sind sie bei dieser Verwandelung lustige Gesellen, komische Käuze, ja vollständige Karikaturen geworden. In unsrer politischen Zeit muß Alles sein politisches Zipfelchen haben. Ich füge mich diesem Brauche, und so sage ich denn: Wie der ewige Jude in gewissen Zetträumen wieder erscheint, so kam auch der Rattenfänger von Hameln vor einigen Jahren wieder, und abermals nicht ohne Erfolg. Er trat als Werber für die Welfenlegion auf und ließ seine silberne Pfeife durch die ganze Provinz Hannover erschallen. Viele oder doch zu Viele für den gesunden Menschenverstand, den die Hannoveraner gern an sich gelobt Grenzboten II. 187S. , g4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/509>, abgerufen am 06.02.2025.