Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in seiner "tabula Haine-Ionsis", sahen in der angeblichen Geschichte schon
damals eine Sage, aber sie hielten sie doch für wichtig genug, um sich mit
allerlei Gründen den Vertheidigern ihrer Wahrheit entgegenzustellen, und ich
denke es ihnen im Folgenden nach beiden Beziehungen hin gleichzuthun, wenn
ich dabei auch zu einem wesentlich andern Schlußergebniß gelangen werde als
jene alten Herren.

Der Rattenfänger von Hameln ist in der Gestalt, in der ihn der Volks¬
mund auftreten läßt, wie nicht erst versichert zu werden braucht, fast in dem¬
selben Grade eine geschichtliche Persönlichkeit, wie der Basilisk von Hameln,
der nach Spilker's Bericht im Jahre 1511 mit seinem giftigen Hauche drei
Menschen tödtete. Ich sage "fast"; denn' er ist doch etwas mehr, er hat, wie
wir sehen werden, einen mythischen Kern.

Zunächst aber wollen wir einmal thun, als ob die Wegführung der
Kinder in die Erde und dann nach Siebenbürgen mit den angeführten Be¬
weisen bis zu einem gewissen Maße festgestellt, als ob sie nicht von vorn¬
herein Vernunft- und naturwidrig wäre. Da hätten denn zunächst jene reisen¬
den Handwerksburschen falsch gehört, wenn sie in dem Dialekt der sieben-
bürger Sachsen das Plattdeutsch der Gegend von Hameln erkannten; denn
die deutschen Ansiedler von 1143, von denen diese abstammen, kamen nicht
von der obern Weser, sondern vom Niederrhein, und sie wie ihre Nachkommen
redeten den hier üblichen Dialekt. Sodann wäre bedenklich, daß der älteste
Chronist Hamelns, der Canonicus Johann de Polde, der im Jahre 1384 als
sehr betagter Mann schrieb, der Begebenheit mit keinem Worte gedenkt.
Dieselbe hatte nach dem Steine am neuen Thore 1289 stattgefunden, und so
würde der Großvater des Chronisten sie erlebt haben können. Nach Andern
erfolgte der Auszug der Kinder noch später. Nach dem Rector Erich fand
er 1282 statt, nach Michael Saro 1376, nach der Meinung des älteren Erich
gar erst 1378, so daß de Polde dem Wunder sechs oder acht Jahre vor Ab¬
fassung seiner Chronik als Augenzeuge beigewohnt haben könnte, jedenfalls
aber unter Augenzeugen desselben gelebt haben müßte. Endlich würde nicht
weniger der Umstand auffallen, daß die Münsterkirche, die doch weit älter als
die Marktkirche ist, weder durch eine Inschrift noch durch ein Bild des Bor¬
falls Erwähnung thut, und daß ebenso wenig irgendwo berichtet wird, es sei
einmal etwas der Art dort zu sehen gewesen.

Der Rattenfänger von Hameln bleibt also eine Fabel, trotzdem daß
Steine, Hausinschriften. Bildwerke und späte Chroniken sogar das Jahr zu
nennen wußten, in welchem er die Kinder entführt haben sollte. Ader wie
entstand diese Fabel? Ist sie eine Sage mit geschichtlichem Hintergrunde?
Einigen Forschern ist das so erschienen, und zwar bringen sie die Sache mit
der Fehde zwischen dem Bischof Widekind von Minden und dem Herzog


in seiner „tabula Haine-Ionsis", sahen in der angeblichen Geschichte schon
damals eine Sage, aber sie hielten sie doch für wichtig genug, um sich mit
allerlei Gründen den Vertheidigern ihrer Wahrheit entgegenzustellen, und ich
denke es ihnen im Folgenden nach beiden Beziehungen hin gleichzuthun, wenn
ich dabei auch zu einem wesentlich andern Schlußergebniß gelangen werde als
jene alten Herren.

Der Rattenfänger von Hameln ist in der Gestalt, in der ihn der Volks¬
mund auftreten läßt, wie nicht erst versichert zu werden braucht, fast in dem¬
selben Grade eine geschichtliche Persönlichkeit, wie der Basilisk von Hameln,
der nach Spilker's Bericht im Jahre 1511 mit seinem giftigen Hauche drei
Menschen tödtete. Ich sage „fast"; denn' er ist doch etwas mehr, er hat, wie
wir sehen werden, einen mythischen Kern.

Zunächst aber wollen wir einmal thun, als ob die Wegführung der
Kinder in die Erde und dann nach Siebenbürgen mit den angeführten Be¬
weisen bis zu einem gewissen Maße festgestellt, als ob sie nicht von vorn¬
herein Vernunft- und naturwidrig wäre. Da hätten denn zunächst jene reisen¬
den Handwerksburschen falsch gehört, wenn sie in dem Dialekt der sieben-
bürger Sachsen das Plattdeutsch der Gegend von Hameln erkannten; denn
die deutschen Ansiedler von 1143, von denen diese abstammen, kamen nicht
von der obern Weser, sondern vom Niederrhein, und sie wie ihre Nachkommen
redeten den hier üblichen Dialekt. Sodann wäre bedenklich, daß der älteste
Chronist Hamelns, der Canonicus Johann de Polde, der im Jahre 1384 als
sehr betagter Mann schrieb, der Begebenheit mit keinem Worte gedenkt.
Dieselbe hatte nach dem Steine am neuen Thore 1289 stattgefunden, und so
würde der Großvater des Chronisten sie erlebt haben können. Nach Andern
erfolgte der Auszug der Kinder noch später. Nach dem Rector Erich fand
er 1282 statt, nach Michael Saro 1376, nach der Meinung des älteren Erich
gar erst 1378, so daß de Polde dem Wunder sechs oder acht Jahre vor Ab¬
fassung seiner Chronik als Augenzeuge beigewohnt haben könnte, jedenfalls
aber unter Augenzeugen desselben gelebt haben müßte. Endlich würde nicht
weniger der Umstand auffallen, daß die Münsterkirche, die doch weit älter als
die Marktkirche ist, weder durch eine Inschrift noch durch ein Bild des Bor¬
falls Erwähnung thut, und daß ebenso wenig irgendwo berichtet wird, es sei
einmal etwas der Art dort zu sehen gewesen.

Der Rattenfänger von Hameln bleibt also eine Fabel, trotzdem daß
Steine, Hausinschriften. Bildwerke und späte Chroniken sogar das Jahr zu
nennen wußten, in welchem er die Kinder entführt haben sollte. Ader wie
entstand diese Fabel? Ist sie eine Sage mit geschichtlichem Hintergrunde?
Einigen Forschern ist das so erschienen, und zwar bringen sie die Sache mit
der Fehde zwischen dem Bischof Widekind von Minden und dem Herzog


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133793"/>
          <p xml:id="ID_1715" prev="#ID_1714"> in seiner &#x201E;tabula Haine-Ionsis", sahen in der angeblichen Geschichte schon<lb/>
damals eine Sage, aber sie hielten sie doch für wichtig genug, um sich mit<lb/>
allerlei Gründen den Vertheidigern ihrer Wahrheit entgegenzustellen, und ich<lb/>
denke es ihnen im Folgenden nach beiden Beziehungen hin gleichzuthun, wenn<lb/>
ich dabei auch zu einem wesentlich andern Schlußergebniß gelangen werde als<lb/>
jene alten Herren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1716"> Der Rattenfänger von Hameln ist in der Gestalt, in der ihn der Volks¬<lb/>
mund auftreten läßt, wie nicht erst versichert zu werden braucht, fast in dem¬<lb/>
selben Grade eine geschichtliche Persönlichkeit, wie der Basilisk von Hameln,<lb/>
der nach Spilker's Bericht im Jahre 1511 mit seinem giftigen Hauche drei<lb/>
Menschen tödtete. Ich sage &#x201E;fast"; denn' er ist doch etwas mehr, er hat, wie<lb/>
wir sehen werden, einen mythischen Kern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1717"> Zunächst aber wollen wir einmal thun, als ob die Wegführung der<lb/>
Kinder in die Erde und dann nach Siebenbürgen mit den angeführten Be¬<lb/>
weisen bis zu einem gewissen Maße festgestellt, als ob sie nicht von vorn¬<lb/>
herein Vernunft- und naturwidrig wäre. Da hätten denn zunächst jene reisen¬<lb/>
den Handwerksburschen falsch gehört, wenn sie in dem Dialekt der sieben-<lb/>
bürger Sachsen das Plattdeutsch der Gegend von Hameln erkannten; denn<lb/>
die deutschen Ansiedler von 1143, von denen diese abstammen, kamen nicht<lb/>
von der obern Weser, sondern vom Niederrhein, und sie wie ihre Nachkommen<lb/>
redeten den hier üblichen Dialekt. Sodann wäre bedenklich, daß der älteste<lb/>
Chronist Hamelns, der Canonicus Johann de Polde, der im Jahre 1384 als<lb/>
sehr betagter Mann schrieb, der Begebenheit mit keinem Worte gedenkt.<lb/>
Dieselbe hatte nach dem Steine am neuen Thore 1289 stattgefunden, und so<lb/>
würde der Großvater des Chronisten sie erlebt haben können. Nach Andern<lb/>
erfolgte der Auszug der Kinder noch später. Nach dem Rector Erich fand<lb/>
er 1282 statt, nach Michael Saro 1376, nach der Meinung des älteren Erich<lb/>
gar erst 1378, so daß de Polde dem Wunder sechs oder acht Jahre vor Ab¬<lb/>
fassung seiner Chronik als Augenzeuge beigewohnt haben könnte, jedenfalls<lb/>
aber unter Augenzeugen desselben gelebt haben müßte. Endlich würde nicht<lb/>
weniger der Umstand auffallen, daß die Münsterkirche, die doch weit älter als<lb/>
die Marktkirche ist, weder durch eine Inschrift noch durch ein Bild des Bor¬<lb/>
falls Erwähnung thut, und daß ebenso wenig irgendwo berichtet wird, es sei<lb/>
einmal etwas der Art dort zu sehen gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1718" next="#ID_1719"> Der Rattenfänger von Hameln bleibt also eine Fabel, trotzdem daß<lb/>
Steine, Hausinschriften. Bildwerke und späte Chroniken sogar das Jahr zu<lb/>
nennen wußten, in welchem er die Kinder entführt haben sollte. Ader wie<lb/>
entstand diese Fabel? Ist sie eine Sage mit geschichtlichem Hintergrunde?<lb/>
Einigen Forschern ist das so erschienen, und zwar bringen sie die Sache mit<lb/>
der Fehde zwischen dem Bischof Widekind von Minden und dem Herzog</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0505] in seiner „tabula Haine-Ionsis", sahen in der angeblichen Geschichte schon damals eine Sage, aber sie hielten sie doch für wichtig genug, um sich mit allerlei Gründen den Vertheidigern ihrer Wahrheit entgegenzustellen, und ich denke es ihnen im Folgenden nach beiden Beziehungen hin gleichzuthun, wenn ich dabei auch zu einem wesentlich andern Schlußergebniß gelangen werde als jene alten Herren. Der Rattenfänger von Hameln ist in der Gestalt, in der ihn der Volks¬ mund auftreten läßt, wie nicht erst versichert zu werden braucht, fast in dem¬ selben Grade eine geschichtliche Persönlichkeit, wie der Basilisk von Hameln, der nach Spilker's Bericht im Jahre 1511 mit seinem giftigen Hauche drei Menschen tödtete. Ich sage „fast"; denn' er ist doch etwas mehr, er hat, wie wir sehen werden, einen mythischen Kern. Zunächst aber wollen wir einmal thun, als ob die Wegführung der Kinder in die Erde und dann nach Siebenbürgen mit den angeführten Be¬ weisen bis zu einem gewissen Maße festgestellt, als ob sie nicht von vorn¬ herein Vernunft- und naturwidrig wäre. Da hätten denn zunächst jene reisen¬ den Handwerksburschen falsch gehört, wenn sie in dem Dialekt der sieben- bürger Sachsen das Plattdeutsch der Gegend von Hameln erkannten; denn die deutschen Ansiedler von 1143, von denen diese abstammen, kamen nicht von der obern Weser, sondern vom Niederrhein, und sie wie ihre Nachkommen redeten den hier üblichen Dialekt. Sodann wäre bedenklich, daß der älteste Chronist Hamelns, der Canonicus Johann de Polde, der im Jahre 1384 als sehr betagter Mann schrieb, der Begebenheit mit keinem Worte gedenkt. Dieselbe hatte nach dem Steine am neuen Thore 1289 stattgefunden, und so würde der Großvater des Chronisten sie erlebt haben können. Nach Andern erfolgte der Auszug der Kinder noch später. Nach dem Rector Erich fand er 1282 statt, nach Michael Saro 1376, nach der Meinung des älteren Erich gar erst 1378, so daß de Polde dem Wunder sechs oder acht Jahre vor Ab¬ fassung seiner Chronik als Augenzeuge beigewohnt haben könnte, jedenfalls aber unter Augenzeugen desselben gelebt haben müßte. Endlich würde nicht weniger der Umstand auffallen, daß die Münsterkirche, die doch weit älter als die Marktkirche ist, weder durch eine Inschrift noch durch ein Bild des Bor¬ falls Erwähnung thut, und daß ebenso wenig irgendwo berichtet wird, es sei einmal etwas der Art dort zu sehen gewesen. Der Rattenfänger von Hameln bleibt also eine Fabel, trotzdem daß Steine, Hausinschriften. Bildwerke und späte Chroniken sogar das Jahr zu nennen wußten, in welchem er die Kinder entführt haben sollte. Ader wie entstand diese Fabel? Ist sie eine Sage mit geschichtlichem Hintergrunde? Einigen Forschern ist das so erschienen, und zwar bringen sie die Sache mit der Fehde zwischen dem Bischof Widekind von Minden und dem Herzog

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/505
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/505>, abgerufen am 06.02.2025.