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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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französischen Revolution und die Thaten der Pariser Commune im Früh¬
jahre 1871 als edele Manifestationen des zum Bewußtsein und zur Herrschaft
gelangten Volksgeistes. Der Sinnengenuß wird als das eigentliche Ziel des
menschlichen Lebens gepriesen; Nüchternheit, Fleiß und Sparsamkeit find für
den Arbeiter keine Tugenden mehr, weil die Bethätigung dieser Eigenschaften
ihn kraft des ehernen Lohngesetzes immer tiefer in die Knechtschaft des blut¬
saugerischen Kapitales bringen würde. Alle Euere Anstrengung hilft euch
nichts, ruft man den Arbeitern zu, so lange die jetzigen Obrigkeiten und
Gesetze bestehen; sie kommt lediglich den Kapitalisten zu Gute; schlechter wie
jetzt kann es euch niemals gehen, darum quälet euch nicht vergeblich ab und
legt euch keine unnützen Entbehrungen auf. Die Socialdemokraten schwärmen
zwar vorgeblich sehr für die geistige Fortbildung des Volkes; aber unsere
jetzigen Volksschulen sind ihnen ein Gräuel, und den der Schule entwachsenen
Arbeitern bieten sie als geistige Nahrung nur ihre von Haß gegen alle be¬
stehende Ordnung erfüllten Zeitungen, Flugblätter und Gedichte. Der reiche
Schatz unserer Volksliteratur in Prosa und Poesie soll ihnen verschlossen
bleiben; denn auch diese ist im Dienste des Kapitals entstanden.

Ueber dasjenige, was nicht socialdemokratisch gesinnte Leute über die
Lage der Arbeiter denken, werden letztere möglichst im Dunkeln gehalten oder
geflissentlich getäuscht. Man muß es den socialistischen Führern zum Ruhme
nachsagen, daß sie in der Literatur über die sociale Frage ziemlich genau
orientirt sind und von jedem neu erschienenen Werke Kenntniß nehmen.
Sobald ein Mann von irgend einer Bedeutung etwas zu Gunsten der
arbeitenden Klassen sagt oder sich über Mißstände, die in der Lage der Ar¬
beiter vorhanden sind, ausspricht, so verfehlen die socialdemokratischen Blätter
nicht, dies nachzudrucken und in ihrem Sinne auszubeuten. Sie wählen
dann aber wohlweislich immer nur solche Sätze aus, welche in einem ihnen
günstigen Sinne ausgelegt werden können; alles Andere, auch wenn es zum
Verständniß der citirten Sätze nöthig ist, lassen sie fort. So werden die
Leser jener Blätter systematisch irre geführt und zu dem Glauben verleitet,
als stände ein erheblicher Theil unserer deutschen Gelehrten in wesentlichen
Punkten auf Seiten der Socialdemokratie.

So offen als es im Hinblick auf das Strafgesetz nur irgend möglich ist
fordern die socialistischen Agitatoren zur gewaltsamen Revolution auf.
Werden sie dieserhalb zur Rede gestellt oder zu gerichtlicher Verantwortung
gezogen, so helfen sie sich freilich mit der Ausrede, behufs Erreichung ihrer
Ziele wäre ihnen eine ruhige, friedliche Entwicklung viel lieber als das Be-
schreiten des revolutionären Weges; trotzdem weisen sie auf letzteren die Ar¬
beiter immer wieder in unzweideutiger Weise hin und stellen jeden Versuch,
die Lage der Arbeiter wirklich zu verbessern und die Eintracht zwischen diesen


französischen Revolution und die Thaten der Pariser Commune im Früh¬
jahre 1871 als edele Manifestationen des zum Bewußtsein und zur Herrschaft
gelangten Volksgeistes. Der Sinnengenuß wird als das eigentliche Ziel des
menschlichen Lebens gepriesen; Nüchternheit, Fleiß und Sparsamkeit find für
den Arbeiter keine Tugenden mehr, weil die Bethätigung dieser Eigenschaften
ihn kraft des ehernen Lohngesetzes immer tiefer in die Knechtschaft des blut¬
saugerischen Kapitales bringen würde. Alle Euere Anstrengung hilft euch
nichts, ruft man den Arbeitern zu, so lange die jetzigen Obrigkeiten und
Gesetze bestehen; sie kommt lediglich den Kapitalisten zu Gute; schlechter wie
jetzt kann es euch niemals gehen, darum quälet euch nicht vergeblich ab und
legt euch keine unnützen Entbehrungen auf. Die Socialdemokraten schwärmen
zwar vorgeblich sehr für die geistige Fortbildung des Volkes; aber unsere
jetzigen Volksschulen sind ihnen ein Gräuel, und den der Schule entwachsenen
Arbeitern bieten sie als geistige Nahrung nur ihre von Haß gegen alle be¬
stehende Ordnung erfüllten Zeitungen, Flugblätter und Gedichte. Der reiche
Schatz unserer Volksliteratur in Prosa und Poesie soll ihnen verschlossen
bleiben; denn auch diese ist im Dienste des Kapitals entstanden.

Ueber dasjenige, was nicht socialdemokratisch gesinnte Leute über die
Lage der Arbeiter denken, werden letztere möglichst im Dunkeln gehalten oder
geflissentlich getäuscht. Man muß es den socialistischen Führern zum Ruhme
nachsagen, daß sie in der Literatur über die sociale Frage ziemlich genau
orientirt sind und von jedem neu erschienenen Werke Kenntniß nehmen.
Sobald ein Mann von irgend einer Bedeutung etwas zu Gunsten der
arbeitenden Klassen sagt oder sich über Mißstände, die in der Lage der Ar¬
beiter vorhanden sind, ausspricht, so verfehlen die socialdemokratischen Blätter
nicht, dies nachzudrucken und in ihrem Sinne auszubeuten. Sie wählen
dann aber wohlweislich immer nur solche Sätze aus, welche in einem ihnen
günstigen Sinne ausgelegt werden können; alles Andere, auch wenn es zum
Verständniß der citirten Sätze nöthig ist, lassen sie fort. So werden die
Leser jener Blätter systematisch irre geführt und zu dem Glauben verleitet,
als stände ein erheblicher Theil unserer deutschen Gelehrten in wesentlichen
Punkten auf Seiten der Socialdemokratie.

So offen als es im Hinblick auf das Strafgesetz nur irgend möglich ist
fordern die socialistischen Agitatoren zur gewaltsamen Revolution auf.
Werden sie dieserhalb zur Rede gestellt oder zu gerichtlicher Verantwortung
gezogen, so helfen sie sich freilich mit der Ausrede, behufs Erreichung ihrer
Ziele wäre ihnen eine ruhige, friedliche Entwicklung viel lieber als das Be-
schreiten des revolutionären Weges; trotzdem weisen sie auf letzteren die Ar¬
beiter immer wieder in unzweideutiger Weise hin und stellen jeden Versuch,
die Lage der Arbeiter wirklich zu verbessern und die Eintracht zwischen diesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/50>, abgerufen am 06.02.2025.