Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.Wer die Abhandlung Treitschke's aufmerksam durchliest, kann sich aller¬ Ihre gründliche Erledigung ist von der größten Wichtigkeit. Mag man Meines Erachtens kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Seitens ') Wenn ich hier und in der Folge die Ausdrücke "socialistisch" "Socialismus" u. s. w.
brauche, so sollen damit lediglich die Anschauungen unserer heutigen Socialdemokratie bezeichnet werden, nicht etwa anderweitige Ansichten, die man auch oft unter "Socialismus" zusammenfaßt. Wer die Abhandlung Treitschke's aufmerksam durchliest, kann sich aller¬ Ihre gründliche Erledigung ist von der größten Wichtigkeit. Mag man Meines Erachtens kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Seitens ') Wenn ich hier und in der Folge die Ausdrücke „socialistisch" „Socialismus" u. s. w.
brauche, so sollen damit lediglich die Anschauungen unserer heutigen Socialdemokratie bezeichnet werden, nicht etwa anderweitige Ansichten, die man auch oft unter „Socialismus" zusammenfaßt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0047" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133335"/> <p xml:id="ID_129"> Wer die Abhandlung Treitschke's aufmerksam durchliest, kann sich aller¬<lb/> dings der Ueberzeugung nicht verschließen, daß eine sehr wichtige, mit dem<lb/> behandelten Gegenstande in innigstem Zusammenhang stehende Frage ungelöst<lb/> bleibt oder, schärfer ausgedrückt, daß die Treitschke'sche Argumentation an<lb/> einem gewissen Widerspruch leidet. Treitschke sieht nämlich einerseits mit<lb/> großer Hoffnung auf die in nächster Zukunft bevorstehende Entwicklung unseres<lb/> Volks- und Staatslebens und gründet diese Hoffnung nicht zum geringsten Theile<lb/> auf die sittliche Tüchtigkeit, welche im Allgemeinen unserm Volke eigen ist.<lb/> Sein berechtigter, ich möchte fast sagen heiliger Zorn gegen die Socialdemo¬<lb/> kratie zieht hauptsächlich aus der Ueberzeugung seine Nahrung, daß die Ver¬<lb/> breitung socialdemokratischer Grundsätze in weiteren Kreisen nothwendiger<lb/> Weise die sittliche Kraft des Volkes untergraben muß. Auf der andern Seite<lb/> kann auch Treitschke nicht läugnen, daß schon jetzt ein nicht unerheblicher<lb/> Bruchtheil unsrer Arbeiterbevölkerung von socialistischen*) Ideen inficirt ist<lb/> oder doch von socialistischen Führern willig sich leiten läßt, daß die Social¬<lb/> demokratie einen nicht unbeträchtlichen Einfluß ausübt, welchen der praktische<lb/> Politiker nicht ignoriren darf, mag er ihn auch für noch so verderblich halten.<lb/> Unter solchen Umständen drängt sich die Frage gewissermaßen von selbst auf,<lb/> wie es möglich sei, daß in einem sittlich tüchtigen Volke die Vertreter un¬<lb/> sittlicher Tendenzen eine so bedeutende Wirksamkeit entfalten, so viele An¬<lb/> hänger finden können. Auf diese Frage giebt uns Treitschke keine bestimmte<lb/> Antwort, wiewohl einige seiner Bemerkungen darauf schließen lassen, daß die¬<lb/> selbe an seinem Geiste wenigstens vorübergestreift ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_130"> Ihre gründliche Erledigung ist von der größten Wichtigkeit. Mag man<lb/> den Einfluß der Socialdemokratie etwas höher oder etwas niedriger veran¬<lb/> schlagen: die Thatsachen beweisen, daß er vorhanden ist und sich in sehr<lb/> merkbarer, und unheilvoller Weise geltend macht. Angesichts Dessen giebt es<lb/> blos folgende Möglichkeiten: entweder sind die Grundsätze der Socialdemokraten<lb/> nicht so unsittlich, wie Treitschke sie ausgiebt; oder die Sittlichkeit unserer Ar¬<lb/> beiter steht auf so schwachen Füßen, daß es bloß einiger geschickt gewählter<lb/> Worte bedarf, um dieselbe über den Haufen zu werfen; oder endlich die So¬<lb/> cialdemokraten verstehen es, den Arbeitern auf anderem Wege so viele wirk¬<lb/> lichen oder vermeintlichen Vortheile zu bieten, daß ihre an und für sich un¬<lb/> sittlichen Tendenzen in den Hintergrund treten oder unbeachtet bleiben. Ich<lb/> will zu prüfen versuchen, für welche dieser drei Möglichkeiten man sich in<lb/> Anbetracht der vorliegenden Thatsachen vorzugsweise zu entscheiden hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_131" next="#ID_132"> Meines Erachtens kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Seitens</p><lb/> <note xml:id="FID_7" place="foot"> ') Wenn ich hier und in der Folge die Ausdrücke „socialistisch" „Socialismus" u. s. w.<lb/> brauche, so sollen damit lediglich die Anschauungen unserer heutigen Socialdemokratie bezeichnet<lb/> werden, nicht etwa anderweitige Ansichten, die man auch oft unter „Socialismus" zusammenfaßt.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0047]
Wer die Abhandlung Treitschke's aufmerksam durchliest, kann sich aller¬
dings der Ueberzeugung nicht verschließen, daß eine sehr wichtige, mit dem
behandelten Gegenstande in innigstem Zusammenhang stehende Frage ungelöst
bleibt oder, schärfer ausgedrückt, daß die Treitschke'sche Argumentation an
einem gewissen Widerspruch leidet. Treitschke sieht nämlich einerseits mit
großer Hoffnung auf die in nächster Zukunft bevorstehende Entwicklung unseres
Volks- und Staatslebens und gründet diese Hoffnung nicht zum geringsten Theile
auf die sittliche Tüchtigkeit, welche im Allgemeinen unserm Volke eigen ist.
Sein berechtigter, ich möchte fast sagen heiliger Zorn gegen die Socialdemo¬
kratie zieht hauptsächlich aus der Ueberzeugung seine Nahrung, daß die Ver¬
breitung socialdemokratischer Grundsätze in weiteren Kreisen nothwendiger
Weise die sittliche Kraft des Volkes untergraben muß. Auf der andern Seite
kann auch Treitschke nicht läugnen, daß schon jetzt ein nicht unerheblicher
Bruchtheil unsrer Arbeiterbevölkerung von socialistischen*) Ideen inficirt ist
oder doch von socialistischen Führern willig sich leiten läßt, daß die Social¬
demokratie einen nicht unbeträchtlichen Einfluß ausübt, welchen der praktische
Politiker nicht ignoriren darf, mag er ihn auch für noch so verderblich halten.
Unter solchen Umständen drängt sich die Frage gewissermaßen von selbst auf,
wie es möglich sei, daß in einem sittlich tüchtigen Volke die Vertreter un¬
sittlicher Tendenzen eine so bedeutende Wirksamkeit entfalten, so viele An¬
hänger finden können. Auf diese Frage giebt uns Treitschke keine bestimmte
Antwort, wiewohl einige seiner Bemerkungen darauf schließen lassen, daß die¬
selbe an seinem Geiste wenigstens vorübergestreift ist.
Ihre gründliche Erledigung ist von der größten Wichtigkeit. Mag man
den Einfluß der Socialdemokratie etwas höher oder etwas niedriger veran¬
schlagen: die Thatsachen beweisen, daß er vorhanden ist und sich in sehr
merkbarer, und unheilvoller Weise geltend macht. Angesichts Dessen giebt es
blos folgende Möglichkeiten: entweder sind die Grundsätze der Socialdemokraten
nicht so unsittlich, wie Treitschke sie ausgiebt; oder die Sittlichkeit unserer Ar¬
beiter steht auf so schwachen Füßen, daß es bloß einiger geschickt gewählter
Worte bedarf, um dieselbe über den Haufen zu werfen; oder endlich die So¬
cialdemokraten verstehen es, den Arbeitern auf anderem Wege so viele wirk¬
lichen oder vermeintlichen Vortheile zu bieten, daß ihre an und für sich un¬
sittlichen Tendenzen in den Hintergrund treten oder unbeachtet bleiben. Ich
will zu prüfen versuchen, für welche dieser drei Möglichkeiten man sich in
Anbetracht der vorliegenden Thatsachen vorzugsweise zu entscheiden hat.
Meines Erachtens kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Seitens
') Wenn ich hier und in der Folge die Ausdrücke „socialistisch" „Socialismus" u. s. w.
brauche, so sollen damit lediglich die Anschauungen unserer heutigen Socialdemokratie bezeichnet
werden, nicht etwa anderweitige Ansichten, die man auch oft unter „Socialismus" zusammenfaßt.
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