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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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indem er mit allen verfügbaren Kräften dem rechten Flügel der Preu¬
ßen zumarschierte und so Napoleon in die linke Flanke kam. Was da¬
von ausführbar sein würde, war zur Zeit der Unterredung, an welcher auch
Gneisenau und in Wellington's Gefolge Müffling Theil nahmen, noch nicht
festzustellen; unzweifelhaft hatte der Lord den besten Willen, ein oder das andere
zu thun, unzweifelhaft waren aber auch die bei Quatre-Bras versammelten
Truppen viel zu schwach, um einen jener Pläne wirklich auszuführen.

Die französische Armee hatte sich am Morgen des 16. so spät in Be¬
wegung gesetzt, daß Blücher Zeit erhielt, seine Aufstellung zu vollenden und
daß Wellingtons Marschkolonnen sich der isolirten Division Perporcher bei
Quatre-Bras nähern konnten. Hier, wo Ney vorrückte, siel um 2 Uhr
nachmittags der erste Kanonenschuß. -- Als Napoleon gemeldet wurde, daß
sich die preußische Armee nördlich des Lignybaches versammelt und die vor
ihrer Front liegenden Dörfer Se. Amand, Ligny und Tongrinne besetzt habe,
schien ihm das erst ganz unglaublich; aber nach Feststellung der Thatsache
war er sofort entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Ney erhielt Befehl, den
vor ihm stehenden Feind kräftig zurückzuwerfen, dann Kehrt zu machen und
in Verbindung mit Napoleon den rechten Flügel der Preußen zu umfassen.

Die Schlacht bei Ligny trägt den Charakter des Unfertigen von
Anfang bis zu Ende; nirgends und zu keiner Stunde kamen die Absicht des
preußischen Hauptquartiers und deren Ausführung zu vollem Einklange.
Man hatte gehofft, alle vier Armee-Corps am 16. bei Sombreffe zu ver¬
einigen; aber das IV. Corps blieb aus; man hatte die Stellung im Sinn
der Offensive gewählt und wurde nun eben dort in ausschließliche Defensive
geworfen; der Verbindungsweg von der englischen Position bei Quatre-Bras
zur preußischen Stellung war und blieb frei; Lord Wellington hatte seine
Unterstützung zugesagt; bis zur späten Abendstunde hoffte man auf dieselbe
-- aber sie blieb aus.

Der Angriffsplan Napoleon's ging dahin, den linken Flügel der preußi¬
schen Armee bei Ligny zu umfassen und sie dem Marschall Ney entgegenzu¬
treiben. Der Gedanke, daß auf diese Weise die Preußen zugleich den Eng¬
ländern zugetrieben würden, beunruhigte den Kaiser nicht, weil er bei Quatre-
Bras keine Armee, sondern nur ein schwaches englisches Detachement voraus¬
setzte, dagegen Wellington's Heer in vollem Rückzüge auf Brüssel wähnte.

Die Schlacht begann mit Vandammes Angriff auf Se. Amand-la-Haye um
2'/-,, Uhr. Eine halbe Stunde später hatte der Kampf einen so ernsten Charakter
angenommen, daß der Kaiser dem Marschall Ney Befehl ertheilen ließ, sofort
mit seiner ganzen Macht den rechten Flügel der Preußen zu umfassen. Diese
seien "in dem Augenblick auf frischer That ertappt worden, da sie versucht,
sich mit den Engländern zu vereinigen." Die preußische Armee sei verloren,


indem er mit allen verfügbaren Kräften dem rechten Flügel der Preu¬
ßen zumarschierte und so Napoleon in die linke Flanke kam. Was da¬
von ausführbar sein würde, war zur Zeit der Unterredung, an welcher auch
Gneisenau und in Wellington's Gefolge Müffling Theil nahmen, noch nicht
festzustellen; unzweifelhaft hatte der Lord den besten Willen, ein oder das andere
zu thun, unzweifelhaft waren aber auch die bei Quatre-Bras versammelten
Truppen viel zu schwach, um einen jener Pläne wirklich auszuführen.

Die französische Armee hatte sich am Morgen des 16. so spät in Be¬
wegung gesetzt, daß Blücher Zeit erhielt, seine Aufstellung zu vollenden und
daß Wellingtons Marschkolonnen sich der isolirten Division Perporcher bei
Quatre-Bras nähern konnten. Hier, wo Ney vorrückte, siel um 2 Uhr
nachmittags der erste Kanonenschuß. — Als Napoleon gemeldet wurde, daß
sich die preußische Armee nördlich des Lignybaches versammelt und die vor
ihrer Front liegenden Dörfer Se. Amand, Ligny und Tongrinne besetzt habe,
schien ihm das erst ganz unglaublich; aber nach Feststellung der Thatsache
war er sofort entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Ney erhielt Befehl, den
vor ihm stehenden Feind kräftig zurückzuwerfen, dann Kehrt zu machen und
in Verbindung mit Napoleon den rechten Flügel der Preußen zu umfassen.

Die Schlacht bei Ligny trägt den Charakter des Unfertigen von
Anfang bis zu Ende; nirgends und zu keiner Stunde kamen die Absicht des
preußischen Hauptquartiers und deren Ausführung zu vollem Einklange.
Man hatte gehofft, alle vier Armee-Corps am 16. bei Sombreffe zu ver¬
einigen; aber das IV. Corps blieb aus; man hatte die Stellung im Sinn
der Offensive gewählt und wurde nun eben dort in ausschließliche Defensive
geworfen; der Verbindungsweg von der englischen Position bei Quatre-Bras
zur preußischen Stellung war und blieb frei; Lord Wellington hatte seine
Unterstützung zugesagt; bis zur späten Abendstunde hoffte man auf dieselbe
— aber sie blieb aus.

Der Angriffsplan Napoleon's ging dahin, den linken Flügel der preußi¬
schen Armee bei Ligny zu umfassen und sie dem Marschall Ney entgegenzu¬
treiben. Der Gedanke, daß auf diese Weise die Preußen zugleich den Eng¬
ländern zugetrieben würden, beunruhigte den Kaiser nicht, weil er bei Quatre-
Bras keine Armee, sondern nur ein schwaches englisches Detachement voraus¬
setzte, dagegen Wellington's Heer in vollem Rückzüge auf Brüssel wähnte.

Die Schlacht begann mit Vandammes Angriff auf Se. Amand-la-Haye um
2'/-,, Uhr. Eine halbe Stunde später hatte der Kampf einen so ernsten Charakter
angenommen, daß der Kaiser dem Marschall Ney Befehl ertheilen ließ, sofort
mit seiner ganzen Macht den rechten Flügel der Preußen zu umfassen. Diese
seien „in dem Augenblick auf frischer That ertappt worden, da sie versucht,
sich mit den Engländern zu vereinigen." Die preußische Armee sei verloren,


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[0456] indem er mit allen verfügbaren Kräften dem rechten Flügel der Preu¬ ßen zumarschierte und so Napoleon in die linke Flanke kam. Was da¬ von ausführbar sein würde, war zur Zeit der Unterredung, an welcher auch Gneisenau und in Wellington's Gefolge Müffling Theil nahmen, noch nicht festzustellen; unzweifelhaft hatte der Lord den besten Willen, ein oder das andere zu thun, unzweifelhaft waren aber auch die bei Quatre-Bras versammelten Truppen viel zu schwach, um einen jener Pläne wirklich auszuführen. Die französische Armee hatte sich am Morgen des 16. so spät in Be¬ wegung gesetzt, daß Blücher Zeit erhielt, seine Aufstellung zu vollenden und daß Wellingtons Marschkolonnen sich der isolirten Division Perporcher bei Quatre-Bras nähern konnten. Hier, wo Ney vorrückte, siel um 2 Uhr nachmittags der erste Kanonenschuß. — Als Napoleon gemeldet wurde, daß sich die preußische Armee nördlich des Lignybaches versammelt und die vor ihrer Front liegenden Dörfer Se. Amand, Ligny und Tongrinne besetzt habe, schien ihm das erst ganz unglaublich; aber nach Feststellung der Thatsache war er sofort entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Ney erhielt Befehl, den vor ihm stehenden Feind kräftig zurückzuwerfen, dann Kehrt zu machen und in Verbindung mit Napoleon den rechten Flügel der Preußen zu umfassen. Die Schlacht bei Ligny trägt den Charakter des Unfertigen von Anfang bis zu Ende; nirgends und zu keiner Stunde kamen die Absicht des preußischen Hauptquartiers und deren Ausführung zu vollem Einklange. Man hatte gehofft, alle vier Armee-Corps am 16. bei Sombreffe zu ver¬ einigen; aber das IV. Corps blieb aus; man hatte die Stellung im Sinn der Offensive gewählt und wurde nun eben dort in ausschließliche Defensive geworfen; der Verbindungsweg von der englischen Position bei Quatre-Bras zur preußischen Stellung war und blieb frei; Lord Wellington hatte seine Unterstützung zugesagt; bis zur späten Abendstunde hoffte man auf dieselbe — aber sie blieb aus. Der Angriffsplan Napoleon's ging dahin, den linken Flügel der preußi¬ schen Armee bei Ligny zu umfassen und sie dem Marschall Ney entgegenzu¬ treiben. Der Gedanke, daß auf diese Weise die Preußen zugleich den Eng¬ ländern zugetrieben würden, beunruhigte den Kaiser nicht, weil er bei Quatre- Bras keine Armee, sondern nur ein schwaches englisches Detachement voraus¬ setzte, dagegen Wellington's Heer in vollem Rückzüge auf Brüssel wähnte. Die Schlacht begann mit Vandammes Angriff auf Se. Amand-la-Haye um 2'/-,, Uhr. Eine halbe Stunde später hatte der Kampf einen so ernsten Charakter angenommen, daß der Kaiser dem Marschall Ney Befehl ertheilen ließ, sofort mit seiner ganzen Macht den rechten Flügel der Preußen zu umfassen. Diese seien „in dem Augenblick auf frischer That ertappt worden, da sie versucht, sich mit den Engländern zu vereinigen." Die preußische Armee sei verloren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/456>, abgerufen am 06.02.2025.