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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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denen anzurufen. Reuter reagirt hier, und das ist das Charakteristische, vom
Standpunkte seines demokratischen Selbstbewußtseins, für das er die schönsten
Jahre seiner Jugend im Kerker vertrauern mußte, gegen den verrotteten Con-
servativismus in seinem Eigendünkel, seiner Unwahrheit, seiner Gemeinschäd¬
lichkeit. Hierin liegt bei diesen Dichtungen die ethische Grundidee, welche
ihnen zugleich den Stempel eines hohen Geistesadels aufdrückt. Zu beachten
bleibt jedoch, daß selbst Reuter's bitterste Satire Nichts gemein hat mit dem
ätzenden Sarkasmus Voltaire's, dessen lMgux son-irs wie Schwefelsäure wirkt,
und daß er uns niemals den großen Humoristen und den wahren Dichter
vergessen läßt. Wohl reißt er Wunden auf. aber ebenso schnell ist er, um
den Schmerz zu lindern, mit dem Balsam bei der Hand, und sein ästhetischer
Sinn begnügt sich nicht mit satirischen Fetzen, sondern strebt dem geschlossenen
Kunstwerke zu, welches allein einen versöhnenden Eindruck machen kann.

Gleich die erste Dichtung: "Ein gräflicher Geburtstag," 1846 oder 46
geschrieben, ist geistreich im besten Sinne des Worts. Die Satire schildert
die Geburtstagsfeier der Herrin auf der gräflich Hahn'schen "Begüterung" in
Mecklenburg. Man kann die erzwungenen Künsteleien bei dergleichen officiellen
Festlichkeiten nicht rücksichtsloser geißeln, als es hier von Reuter geschehen ist.
Sein ganzer Mannesstolz bäumt, sich auf gegen diese verächtliche Selbster¬
niedrigung der Menschen zu marionettenartigen Puppen, welche in unter¬
tänigster Knechtschaft ersterben möchten. Zum Zwecke einer solchen ganz
inhaltslosen Feier, die nicht als unmittelbarer Dankesausdruck des freudig
erregten Volkes, sondern als amtlich abgeforderter Tribut zu betrachten ist,
werden die mühsam gereiften Früchte langen Fleißes leichtsinnig verschleudert,
und eine lächerliche Komödie soll dazu dienen das Volk über seine heiligsten
Rechte hinwegzutäuschen, nach welchen es so sehnsüchtig verlangt, und die
immer wieder gleich einer tata morMna, in Nichts zerfließen. Dies wird von
Reuter in einer Reihe köstlicher Genrebilder zur Anschauung gebracht. Wie
reizend ist es, wenn das Volk einen Lobgesang auf die Gräfin nach der Melodie
der Barcarole in Ander's "Stumme von Portici" anstimme, und mit welchem
feinen Humor werden in die Belustigungen des Volkes und der Jugend die
politischen Tagesbeziehungen hineingeflochten. Der freie immer das Große
-umfassende Blick Reuter's kann sich nicht schöner geltend machen, als es hier
geschieht. Dazu erhält die ganze Dichtung durch den armen Handwerks¬
burschen, welcher ein Holtei'sches Lied über die ungleiche Vertheilung der
Menschlichen Güter und Gaben singt, einen wehmüthig-rührenden und doch
voll austönenden künstlerischen Abschluß.

Noch bedeutender ist die "Urgeschicht von Mecklenborg", welche Reuter
1859 zu schreiben begann und 1862 so weit vollendete, wie sie druckreif ge¬
worden ist. Schon die Einleitung ist ein kleines Meisterstück, übersprudelnd


denen anzurufen. Reuter reagirt hier, und das ist das Charakteristische, vom
Standpunkte seines demokratischen Selbstbewußtseins, für das er die schönsten
Jahre seiner Jugend im Kerker vertrauern mußte, gegen den verrotteten Con-
servativismus in seinem Eigendünkel, seiner Unwahrheit, seiner Gemeinschäd¬
lichkeit. Hierin liegt bei diesen Dichtungen die ethische Grundidee, welche
ihnen zugleich den Stempel eines hohen Geistesadels aufdrückt. Zu beachten
bleibt jedoch, daß selbst Reuter's bitterste Satire Nichts gemein hat mit dem
ätzenden Sarkasmus Voltaire's, dessen lMgux son-irs wie Schwefelsäure wirkt,
und daß er uns niemals den großen Humoristen und den wahren Dichter
vergessen läßt. Wohl reißt er Wunden auf. aber ebenso schnell ist er, um
den Schmerz zu lindern, mit dem Balsam bei der Hand, und sein ästhetischer
Sinn begnügt sich nicht mit satirischen Fetzen, sondern strebt dem geschlossenen
Kunstwerke zu, welches allein einen versöhnenden Eindruck machen kann.

Gleich die erste Dichtung: „Ein gräflicher Geburtstag," 1846 oder 46
geschrieben, ist geistreich im besten Sinne des Worts. Die Satire schildert
die Geburtstagsfeier der Herrin auf der gräflich Hahn'schen „Begüterung" in
Mecklenburg. Man kann die erzwungenen Künsteleien bei dergleichen officiellen
Festlichkeiten nicht rücksichtsloser geißeln, als es hier von Reuter geschehen ist.
Sein ganzer Mannesstolz bäumt, sich auf gegen diese verächtliche Selbster¬
niedrigung der Menschen zu marionettenartigen Puppen, welche in unter¬
tänigster Knechtschaft ersterben möchten. Zum Zwecke einer solchen ganz
inhaltslosen Feier, die nicht als unmittelbarer Dankesausdruck des freudig
erregten Volkes, sondern als amtlich abgeforderter Tribut zu betrachten ist,
werden die mühsam gereiften Früchte langen Fleißes leichtsinnig verschleudert,
und eine lächerliche Komödie soll dazu dienen das Volk über seine heiligsten
Rechte hinwegzutäuschen, nach welchen es so sehnsüchtig verlangt, und die
immer wieder gleich einer tata morMna, in Nichts zerfließen. Dies wird von
Reuter in einer Reihe köstlicher Genrebilder zur Anschauung gebracht. Wie
reizend ist es, wenn das Volk einen Lobgesang auf die Gräfin nach der Melodie
der Barcarole in Ander's „Stumme von Portici" anstimme, und mit welchem
feinen Humor werden in die Belustigungen des Volkes und der Jugend die
politischen Tagesbeziehungen hineingeflochten. Der freie immer das Große
-umfassende Blick Reuter's kann sich nicht schöner geltend machen, als es hier
geschieht. Dazu erhält die ganze Dichtung durch den armen Handwerks¬
burschen, welcher ein Holtei'sches Lied über die ungleiche Vertheilung der
Menschlichen Güter und Gaben singt, einen wehmüthig-rührenden und doch
voll austönenden künstlerischen Abschluß.

Noch bedeutender ist die „Urgeschicht von Mecklenborg", welche Reuter
1859 zu schreiben begann und 1862 so weit vollendete, wie sie druckreif ge¬
worden ist. Schon die Einleitung ist ein kleines Meisterstück, übersprudelnd


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[0441] denen anzurufen. Reuter reagirt hier, und das ist das Charakteristische, vom Standpunkte seines demokratischen Selbstbewußtseins, für das er die schönsten Jahre seiner Jugend im Kerker vertrauern mußte, gegen den verrotteten Con- servativismus in seinem Eigendünkel, seiner Unwahrheit, seiner Gemeinschäd¬ lichkeit. Hierin liegt bei diesen Dichtungen die ethische Grundidee, welche ihnen zugleich den Stempel eines hohen Geistesadels aufdrückt. Zu beachten bleibt jedoch, daß selbst Reuter's bitterste Satire Nichts gemein hat mit dem ätzenden Sarkasmus Voltaire's, dessen lMgux son-irs wie Schwefelsäure wirkt, und daß er uns niemals den großen Humoristen und den wahren Dichter vergessen läßt. Wohl reißt er Wunden auf. aber ebenso schnell ist er, um den Schmerz zu lindern, mit dem Balsam bei der Hand, und sein ästhetischer Sinn begnügt sich nicht mit satirischen Fetzen, sondern strebt dem geschlossenen Kunstwerke zu, welches allein einen versöhnenden Eindruck machen kann. Gleich die erste Dichtung: „Ein gräflicher Geburtstag," 1846 oder 46 geschrieben, ist geistreich im besten Sinne des Worts. Die Satire schildert die Geburtstagsfeier der Herrin auf der gräflich Hahn'schen „Begüterung" in Mecklenburg. Man kann die erzwungenen Künsteleien bei dergleichen officiellen Festlichkeiten nicht rücksichtsloser geißeln, als es hier von Reuter geschehen ist. Sein ganzer Mannesstolz bäumt, sich auf gegen diese verächtliche Selbster¬ niedrigung der Menschen zu marionettenartigen Puppen, welche in unter¬ tänigster Knechtschaft ersterben möchten. Zum Zwecke einer solchen ganz inhaltslosen Feier, die nicht als unmittelbarer Dankesausdruck des freudig erregten Volkes, sondern als amtlich abgeforderter Tribut zu betrachten ist, werden die mühsam gereiften Früchte langen Fleißes leichtsinnig verschleudert, und eine lächerliche Komödie soll dazu dienen das Volk über seine heiligsten Rechte hinwegzutäuschen, nach welchen es so sehnsüchtig verlangt, und die immer wieder gleich einer tata morMna, in Nichts zerfließen. Dies wird von Reuter in einer Reihe köstlicher Genrebilder zur Anschauung gebracht. Wie reizend ist es, wenn das Volk einen Lobgesang auf die Gräfin nach der Melodie der Barcarole in Ander's „Stumme von Portici" anstimme, und mit welchem feinen Humor werden in die Belustigungen des Volkes und der Jugend die politischen Tagesbeziehungen hineingeflochten. Der freie immer das Große -umfassende Blick Reuter's kann sich nicht schöner geltend machen, als es hier geschieht. Dazu erhält die ganze Dichtung durch den armen Handwerks¬ burschen, welcher ein Holtei'sches Lied über die ungleiche Vertheilung der Menschlichen Güter und Gaben singt, einen wehmüthig-rührenden und doch voll austönenden künstlerischen Abschluß. Noch bedeutender ist die „Urgeschicht von Mecklenborg", welche Reuter 1859 zu schreiben begann und 1862 so weit vollendete, wie sie druckreif ge¬ worden ist. Schon die Einleitung ist ein kleines Meisterstück, übersprudelnd

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/441>, abgerufen am 06.02.2025.