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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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durchaus erschöpft hatte, kann, nachdem sich die Gruft über ihm geschlossen
hat, kaum mehr steigen. In der That bietet auch Reuter's literarisches Ver-
mächtniß Nichts, was den Dichter von einer neuen Seite zeigt, obwohl wir
im Einzelnen viel Erfreuliches finden, aus dem uns das alte liebe Gesicht
des trefflichen Humoristen in herzgewinnender Weise entgegenlacht.

Dem Bande geht eine der frischen Feder Wilbrandt's entstammende bio¬
graphische Einleitung voraus, welche an belehrenden Betrachtungen und be¬
richtigenden Angaben manches Bemerkenswerthe enthält. Die gefahrdrohende
Klippe in eine einseitige Ueberschätzung des zu würdigenden Autors zu ver¬
sallen, ist von Wilbrandt im Allgemeinen sehr glücklich umgangen; man muß
ihm einen unparteiischen Blick und eine allem Maßlosen abholde Anschauung
nachrühmen Nur ein Mal geht die warme Begeisterung mit dem gesunden
Urtheil durch, wenn Reuter als der größte deutsche Humorist des Jahr¬
hunderts bezeichnet wird. Hierbei ist offenbar an Jean Paul nicht ge¬
dacht worden, dem kein deutscher Schriftsteller in Bezug auf Weit- und
Tiefblick des Humors die erste Stelle auf dem deutschen Parnaß streitig
machen kann.

Sehr anziehend ist das Portrait, welches Wilbrandt mit feiner Eleganz
und Charakteristik der Striche von dem Mecklenburger entwirft. "Es ist
etwas Erdiges in ihm; er grübelt nicht hoch hinauf und nicht weit hinaus;
sein "Wille zum Leben" wird ihm nicht leicht getrübt; es ist ihm wohl in
dem frischen Wollengeruch, dessen Kraft er athmet, unter dem luftigen Ge¬
wölbe, dessen Gluth oder dessen Regen seine geliebte flache Erdscheibe ernährt.
Freilich kommt auch weniger Cultur zu ihm auf seinen Acker hinaus. Die
Einschränkung seines Daseins hal ihn noch bedächtiger, schwerfälliger, form¬
loser als die andern Genossen der deutschen Familie gemacht. Man könnte
sagen: wie das auskriechende Küchlein noch ein Stück Eierschale, so trägt der
Mecklenburger, auch wenn er zum Städter ward, noch etwas Ackerkrume mit
sich herum. Mehr treuherzig (oder bauernschlau) als weltgewandt; mehr
"mutterwitzig" als geistreich; mehr empfänglich als erfinderisch; mehr gesellig
als politisch; mehr für gewohnten Genuß, als für neues Erschaffen; mehr
tüchtig als groß. Doch was ist Größe? -- Dieser genügsame, lebensfrohe
Ackerbauer hat einige Eigenschaften, die, so oft die günstige Stunde schlägt,
die rechte Mischung erfolgt, zur Größe werden. Der Mecklenburger ist viel¬
leicht der bescheidenste Menschenschlag auf dieser Erde; bescheiden, weil er ohne
vordringende Eitelkeit, weil er einsichtig, gerecht ist. Er hat eine kindlich
warme, männlich treue Liebe zu seinem Beruf; eine Liebe, die der wunderbaren
Unverdvrbenheit seines Charakters entquillt. Er hat endlich noch Eins, das
ihm Tiefsinn, Kunstgenie, leidenschaftliche Thatkraft ersetzt, das ihm die Erde


durchaus erschöpft hatte, kann, nachdem sich die Gruft über ihm geschlossen
hat, kaum mehr steigen. In der That bietet auch Reuter's literarisches Ver-
mächtniß Nichts, was den Dichter von einer neuen Seite zeigt, obwohl wir
im Einzelnen viel Erfreuliches finden, aus dem uns das alte liebe Gesicht
des trefflichen Humoristen in herzgewinnender Weise entgegenlacht.

Dem Bande geht eine der frischen Feder Wilbrandt's entstammende bio¬
graphische Einleitung voraus, welche an belehrenden Betrachtungen und be¬
richtigenden Angaben manches Bemerkenswerthe enthält. Die gefahrdrohende
Klippe in eine einseitige Ueberschätzung des zu würdigenden Autors zu ver¬
sallen, ist von Wilbrandt im Allgemeinen sehr glücklich umgangen; man muß
ihm einen unparteiischen Blick und eine allem Maßlosen abholde Anschauung
nachrühmen Nur ein Mal geht die warme Begeisterung mit dem gesunden
Urtheil durch, wenn Reuter als der größte deutsche Humorist des Jahr¬
hunderts bezeichnet wird. Hierbei ist offenbar an Jean Paul nicht ge¬
dacht worden, dem kein deutscher Schriftsteller in Bezug auf Weit- und
Tiefblick des Humors die erste Stelle auf dem deutschen Parnaß streitig
machen kann.

Sehr anziehend ist das Portrait, welches Wilbrandt mit feiner Eleganz
und Charakteristik der Striche von dem Mecklenburger entwirft. „Es ist
etwas Erdiges in ihm; er grübelt nicht hoch hinauf und nicht weit hinaus;
sein „Wille zum Leben" wird ihm nicht leicht getrübt; es ist ihm wohl in
dem frischen Wollengeruch, dessen Kraft er athmet, unter dem luftigen Ge¬
wölbe, dessen Gluth oder dessen Regen seine geliebte flache Erdscheibe ernährt.
Freilich kommt auch weniger Cultur zu ihm auf seinen Acker hinaus. Die
Einschränkung seines Daseins hal ihn noch bedächtiger, schwerfälliger, form¬
loser als die andern Genossen der deutschen Familie gemacht. Man könnte
sagen: wie das auskriechende Küchlein noch ein Stück Eierschale, so trägt der
Mecklenburger, auch wenn er zum Städter ward, noch etwas Ackerkrume mit
sich herum. Mehr treuherzig (oder bauernschlau) als weltgewandt; mehr
„mutterwitzig" als geistreich; mehr empfänglich als erfinderisch; mehr gesellig
als politisch; mehr für gewohnten Genuß, als für neues Erschaffen; mehr
tüchtig als groß. Doch was ist Größe? — Dieser genügsame, lebensfrohe
Ackerbauer hat einige Eigenschaften, die, so oft die günstige Stunde schlägt,
die rechte Mischung erfolgt, zur Größe werden. Der Mecklenburger ist viel¬
leicht der bescheidenste Menschenschlag auf dieser Erde; bescheiden, weil er ohne
vordringende Eitelkeit, weil er einsichtig, gerecht ist. Er hat eine kindlich
warme, männlich treue Liebe zu seinem Beruf; eine Liebe, die der wunderbaren
Unverdvrbenheit seines Charakters entquillt. Er hat endlich noch Eins, das
ihm Tiefsinn, Kunstgenie, leidenschaftliche Thatkraft ersetzt, das ihm die Erde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/438>, abgerufen am 06.02.2025.