Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hort man neuerdings mit Bestimmtheit versichern, daß dieselbe spätestens mit
dem 1. Juni 1877 sammt der stehenden Rheinbrücke dem Verkehr übergeben
werden wird. Geschäfft wird daran schon seit Monaten hüben und drüben
mit dem größten Eifer.

In einer der letzten Sitzungen des oberelsässtschen Schwurgerichts
kam "ein ziemlich allgemein interessanter Fall zur Verhandlung. Die
Szene spielt in Mülhausen und gehört zu dem Kapitel des durch den
letzten Krieg mehr denn je geweckten und genährten Nationalhasses. Ein alter
Alaun von ca. 60 Jahren, geborener Südfranzose, hatte dort am 24. Juni
vor. I. einen preußischen Soldaten meuchlings ermordet. Bei seiner sofortigen
Verhaftung gab er an, er sei ein Corse aus Ajaccio und habe nur darum
den preußischen Soldaten erstochen, um an demselben einen Akt der Blutrache,
die corsische venäetta, auszuüben. Und das aus dem Grunde, well sein eigener
Sohn, die Stütze seines sinkenden Alters, im Jahre 1871 vor Paris durch
preußische Kugeln gefallen sei. Doch habe er nicht dessen Tod, sondern nur
Blut sehen wollen. Damit sei die Rache gesühnt. Es kostete dem Gerichte
einige Mühe, hinter den wahren Sachverhalt zu kommen. Endlich erfuhr man
^res Zufall den wahren Ort seiner Herkunft, Bourg, und seinen eigentlichen
Namen, Jacques Ligez, den er früher immer als Jean Louis angegeben hatte.
Diese Entdeckung war gleichzeitig für den Angeklagten das Signal zu einer
totalen Aenderung des Systems seiner Vertheidigung, indem er nunmehr als
^rund seiner Handlungsweise eine partielle Geistesstörung angab. Der Schluß
^ar der, daß die Anklage die Beschuldigung wegen Mordes gänzlich fallen
und nur die wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit nachgefolgtem Tode
aufrecht erhielt. Den elsässischen Geschworenen muß man es dabei zu ihrer
Ehre nachsagen, daß sie in diesem für ihre politischen Gefühle wohl etwas
peinlichen Falle ganz sine ira et stuüio gehandelt d. h. alle politischen Hinter¬
gedanken und Erwägungsgründe bei Seite gelassen haben. Der Angeklagte
^urbe dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß für schuldig erklärt und
S Jahren Gefängniß verurtheilt.

In neuester Zeit hat sich in den drei genannten elsässischen Hauptstädten,
^e auch an andern Handelsplätzen Deutschlands, eine lebhafte Agitation zu
Gunsten der Aufrechterhaltung der, bekanntlich gemäß den Beschlüssen des
Justiz-Ausschusses dem nahen Untergange geweihten Handelsgerichte
erhoben. Man hat beschlossen, sich in dieser Beziehung an den Resolutionen
des allgemeinen deutschen Handelstages zu betheiligen.

Indessen hat der Frühling in diesem Jahre, wie allerorten, den ganzen
Wonnemonat hindurch auch im Elsaß seine herrlichsten Triumphe gefeiert und
Alt und Jung für den langen und harten Winter, der Heuer gar kein Ende
nehmen wollte, auf das Reichlichste entschädigt, Aus allen elsässischen Distrik-


Hort man neuerdings mit Bestimmtheit versichern, daß dieselbe spätestens mit
dem 1. Juni 1877 sammt der stehenden Rheinbrücke dem Verkehr übergeben
werden wird. Geschäfft wird daran schon seit Monaten hüben und drüben
mit dem größten Eifer.

In einer der letzten Sitzungen des oberelsässtschen Schwurgerichts
kam "ein ziemlich allgemein interessanter Fall zur Verhandlung. Die
Szene spielt in Mülhausen und gehört zu dem Kapitel des durch den
letzten Krieg mehr denn je geweckten und genährten Nationalhasses. Ein alter
Alaun von ca. 60 Jahren, geborener Südfranzose, hatte dort am 24. Juni
vor. I. einen preußischen Soldaten meuchlings ermordet. Bei seiner sofortigen
Verhaftung gab er an, er sei ein Corse aus Ajaccio und habe nur darum
den preußischen Soldaten erstochen, um an demselben einen Akt der Blutrache,
die corsische venäetta, auszuüben. Und das aus dem Grunde, well sein eigener
Sohn, die Stütze seines sinkenden Alters, im Jahre 1871 vor Paris durch
preußische Kugeln gefallen sei. Doch habe er nicht dessen Tod, sondern nur
Blut sehen wollen. Damit sei die Rache gesühnt. Es kostete dem Gerichte
einige Mühe, hinter den wahren Sachverhalt zu kommen. Endlich erfuhr man
^res Zufall den wahren Ort seiner Herkunft, Bourg, und seinen eigentlichen
Namen, Jacques Ligez, den er früher immer als Jean Louis angegeben hatte.
Diese Entdeckung war gleichzeitig für den Angeklagten das Signal zu einer
totalen Aenderung des Systems seiner Vertheidigung, indem er nunmehr als
^rund seiner Handlungsweise eine partielle Geistesstörung angab. Der Schluß
^ar der, daß die Anklage die Beschuldigung wegen Mordes gänzlich fallen
und nur die wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit nachgefolgtem Tode
aufrecht erhielt. Den elsässischen Geschworenen muß man es dabei zu ihrer
Ehre nachsagen, daß sie in diesem für ihre politischen Gefühle wohl etwas
peinlichen Falle ganz sine ira et stuüio gehandelt d. h. alle politischen Hinter¬
gedanken und Erwägungsgründe bei Seite gelassen haben. Der Angeklagte
^urbe dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß für schuldig erklärt und
S Jahren Gefängniß verurtheilt.

In neuester Zeit hat sich in den drei genannten elsässischen Hauptstädten,
^e auch an andern Handelsplätzen Deutschlands, eine lebhafte Agitation zu
Gunsten der Aufrechterhaltung der, bekanntlich gemäß den Beschlüssen des
Justiz-Ausschusses dem nahen Untergange geweihten Handelsgerichte
erhoben. Man hat beschlossen, sich in dieser Beziehung an den Resolutionen
des allgemeinen deutschen Handelstages zu betheiligen.

Indessen hat der Frühling in diesem Jahre, wie allerorten, den ganzen
Wonnemonat hindurch auch im Elsaß seine herrlichsten Triumphe gefeiert und
Alt und Jung für den langen und harten Winter, der Heuer gar kein Ende
nehmen wollte, auf das Reichlichste entschädigt, Aus allen elsässischen Distrik-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0393" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133681"/>
          <p xml:id="ID_1251" prev="#ID_1250"> Hort man neuerdings mit Bestimmtheit versichern, daß dieselbe spätestens mit<lb/>
dem 1. Juni 1877 sammt der stehenden Rheinbrücke dem Verkehr übergeben<lb/>
werden wird. Geschäfft wird daran schon seit Monaten hüben und drüben<lb/>
mit dem größten Eifer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1252"> In einer der letzten Sitzungen des oberelsässtschen Schwurgerichts<lb/>
kam "ein ziemlich allgemein interessanter Fall zur Verhandlung. Die<lb/>
Szene spielt in Mülhausen und gehört zu dem Kapitel des durch den<lb/>
letzten Krieg mehr denn je geweckten und genährten Nationalhasses. Ein alter<lb/>
Alaun von ca. 60 Jahren, geborener Südfranzose, hatte dort am 24. Juni<lb/>
vor. I. einen preußischen Soldaten meuchlings ermordet. Bei seiner sofortigen<lb/>
Verhaftung gab er an, er sei ein Corse aus Ajaccio und habe nur darum<lb/>
den preußischen Soldaten erstochen, um an demselben einen Akt der Blutrache,<lb/>
die corsische venäetta, auszuüben. Und das aus dem Grunde, well sein eigener<lb/>
Sohn, die Stütze seines sinkenden Alters, im Jahre 1871 vor Paris durch<lb/>
preußische Kugeln gefallen sei. Doch habe er nicht dessen Tod, sondern nur<lb/>
Blut sehen wollen. Damit sei die Rache gesühnt. Es kostete dem Gerichte<lb/>
einige Mühe, hinter den wahren Sachverhalt zu kommen. Endlich erfuhr man<lb/>
^res Zufall den wahren Ort seiner Herkunft, Bourg, und seinen eigentlichen<lb/>
Namen, Jacques Ligez, den er früher immer als Jean Louis angegeben hatte.<lb/>
Diese Entdeckung war gleichzeitig für den Angeklagten das Signal zu einer<lb/>
totalen Aenderung des Systems seiner Vertheidigung, indem er nunmehr als<lb/>
^rund seiner Handlungsweise eine partielle Geistesstörung angab. Der Schluß<lb/>
^ar der, daß die Anklage die Beschuldigung wegen Mordes gänzlich fallen<lb/>
und nur die wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit nachgefolgtem Tode<lb/>
aufrecht erhielt. Den elsässischen Geschworenen muß man es dabei zu ihrer<lb/>
Ehre nachsagen, daß sie in diesem für ihre politischen Gefühle wohl etwas<lb/>
peinlichen Falle ganz sine ira et stuüio gehandelt d. h. alle politischen Hinter¬<lb/>
gedanken und Erwägungsgründe bei Seite gelassen haben. Der Angeklagte<lb/>
^urbe dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß für schuldig erklärt und<lb/>
S Jahren Gefängniß verurtheilt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1253"> In neuester Zeit hat sich in den drei genannten elsässischen Hauptstädten,<lb/>
^e auch an andern Handelsplätzen Deutschlands, eine lebhafte Agitation zu<lb/>
Gunsten der Aufrechterhaltung der, bekanntlich gemäß den Beschlüssen des<lb/>
Justiz-Ausschusses dem nahen Untergange geweihten Handelsgerichte<lb/>
erhoben. Man hat beschlossen, sich in dieser Beziehung an den Resolutionen<lb/>
des allgemeinen deutschen Handelstages zu betheiligen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1254" next="#ID_1255"> Indessen hat der Frühling in diesem Jahre, wie allerorten, den ganzen<lb/>
Wonnemonat hindurch auch im Elsaß seine herrlichsten Triumphe gefeiert und<lb/>
Alt und Jung für den langen und harten Winter, der Heuer gar kein Ende<lb/>
nehmen wollte, auf das Reichlichste entschädigt, Aus allen elsässischen Distrik-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0393] Hort man neuerdings mit Bestimmtheit versichern, daß dieselbe spätestens mit dem 1. Juni 1877 sammt der stehenden Rheinbrücke dem Verkehr übergeben werden wird. Geschäfft wird daran schon seit Monaten hüben und drüben mit dem größten Eifer. In einer der letzten Sitzungen des oberelsässtschen Schwurgerichts kam "ein ziemlich allgemein interessanter Fall zur Verhandlung. Die Szene spielt in Mülhausen und gehört zu dem Kapitel des durch den letzten Krieg mehr denn je geweckten und genährten Nationalhasses. Ein alter Alaun von ca. 60 Jahren, geborener Südfranzose, hatte dort am 24. Juni vor. I. einen preußischen Soldaten meuchlings ermordet. Bei seiner sofortigen Verhaftung gab er an, er sei ein Corse aus Ajaccio und habe nur darum den preußischen Soldaten erstochen, um an demselben einen Akt der Blutrache, die corsische venäetta, auszuüben. Und das aus dem Grunde, well sein eigener Sohn, die Stütze seines sinkenden Alters, im Jahre 1871 vor Paris durch preußische Kugeln gefallen sei. Doch habe er nicht dessen Tod, sondern nur Blut sehen wollen. Damit sei die Rache gesühnt. Es kostete dem Gerichte einige Mühe, hinter den wahren Sachverhalt zu kommen. Endlich erfuhr man ^res Zufall den wahren Ort seiner Herkunft, Bourg, und seinen eigentlichen Namen, Jacques Ligez, den er früher immer als Jean Louis angegeben hatte. Diese Entdeckung war gleichzeitig für den Angeklagten das Signal zu einer totalen Aenderung des Systems seiner Vertheidigung, indem er nunmehr als ^rund seiner Handlungsweise eine partielle Geistesstörung angab. Der Schluß ^ar der, daß die Anklage die Beschuldigung wegen Mordes gänzlich fallen und nur die wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit nachgefolgtem Tode aufrecht erhielt. Den elsässischen Geschworenen muß man es dabei zu ihrer Ehre nachsagen, daß sie in diesem für ihre politischen Gefühle wohl etwas peinlichen Falle ganz sine ira et stuüio gehandelt d. h. alle politischen Hinter¬ gedanken und Erwägungsgründe bei Seite gelassen haben. Der Angeklagte ^urbe dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß für schuldig erklärt und S Jahren Gefängniß verurtheilt. In neuester Zeit hat sich in den drei genannten elsässischen Hauptstädten, ^e auch an andern Handelsplätzen Deutschlands, eine lebhafte Agitation zu Gunsten der Aufrechterhaltung der, bekanntlich gemäß den Beschlüssen des Justiz-Ausschusses dem nahen Untergange geweihten Handelsgerichte erhoben. Man hat beschlossen, sich in dieser Beziehung an den Resolutionen des allgemeinen deutschen Handelstages zu betheiligen. Indessen hat der Frühling in diesem Jahre, wie allerorten, den ganzen Wonnemonat hindurch auch im Elsaß seine herrlichsten Triumphe gefeiert und Alt und Jung für den langen und harten Winter, der Heuer gar kein Ende nehmen wollte, auf das Reichlichste entschädigt, Aus allen elsässischen Distrik-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/393
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/393>, abgerufen am 06.02.2025.