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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Endlich ist die auf die Spitze getriebene Knappheit des Ausdrucks auch nicht
ohne Einfluß auf die grammatische Correctheit geblieben. Goedeke liebt z. B.
unschöne Participialconstructionen, wie S. S3: "Unverheiratet hatte er
(Salzmann) seit Jahren seinen Mittagstisch bei den Jun'gfern Lauts genommen"
anstatt: "Da er unverheirathet war, so hatte er" ze. S. 64: Etwas keck,
vorlaut und rücksichtslos gerieth er (John Meyer) zuweilen mit Goethe in Con¬
flicte -- S. 130: derb, kurz, spartanisch war ihm (Carl August) das
höfische Wesen zuwider. An einer Stelle hat die Sucht nach Kürze geradezu
zur Unklarheit geführt. Es heißt S. 91.. Jerusalem habe sich erschossen, "weil
sein durch Speculation gekränktes Ehrgefühl und schimpflich zurückgewiesenes
Verlangen nach der Frau eines Andern unerträglich gewordenes Leben (sie)
einen raschen gewaltsamen Abschluß verlangte". Ein einziges Wörtchen würde
alles klar machen, aber Goedeke karge mit diesem Wörtchen, und so können
sich die Leser den Kops zerbrechen oder -- darüberhinlesen.

Wem soll man nun das Goedeke'sche Buch empfehlen? Wie aus allem
gesagten hervorgeht, unbedenklich jedem, der sich schon tüchtig in der Goethe¬
literatur umgethan hat und die Fähigkeit besitzt, über die stilistischen Eigen¬
thümlichkeiten des Verfassers sich hinwegzusetzen; für ihn wird es ein äußerst
reichhaltiges und zu tieferen Studien anregendes Repertorium sein. Freilich
muß man dabei vergessen, daß Repertorium von reperire, "auffinden", abzu¬
leiten ist. Denn weder ist durch Indices am Schlüsse des Buches dafür
gesorgt, daß man sich innerhalb desselben, noch durch die geringsten Quellen¬
nachweise, daß man sich außerhalb desselben in den Quellen zurechtfinden
kann. Aber Goedeke hat offenbar allen derartigen Apparat absichtlich ver¬
mieden, weil er zugleich ein lesbares Buch für das größere Publicum schreiben
wollte. Daß ihm das letztere gelungen, möchten wir bezweifeln. Wir fürchten,
daß der Laie dem Buche wenig Geschmack abgewinnen, am allerwenigsten,
ihm vor der Leistung von Lewes den Borzug geben wird. Aus einem Buche,
das so wenig redselig ist, und das die Dinge mittheilt, nicht um sie wie
etwas noch Unbekanntes eben mitzutheilen, sondern wie um an Bekanntes
auszugsweise zu erinnern, wird ein Leser, der dem Stoffe noch fremd gegen¬
übersteht, sich schwerlich unterrichten können und wollen.

Als Goethe anfing, die Selbstbiographie des Benvenuto Cellini deutsch
zu bearbeiten, wollte er sie ursprünglich in verkürzter Form geben. Allein --
so erzählt uns Goedeke selbst -- es erschien ihm bald unmöglich: "denn was
ist das menschliche Leben im Auszuge? Alle pragmatische biographische
Charakteristik muß sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens ver¬
kriechen." Die Wahrheit dieses Goethe'schen Wortes erweist sich einigermaßen
G. W. an Goedeke's eigenem Buche.




Endlich ist die auf die Spitze getriebene Knappheit des Ausdrucks auch nicht
ohne Einfluß auf die grammatische Correctheit geblieben. Goedeke liebt z. B.
unschöne Participialconstructionen, wie S. S3: „Unverheiratet hatte er
(Salzmann) seit Jahren seinen Mittagstisch bei den Jun'gfern Lauts genommen"
anstatt: „Da er unverheirathet war, so hatte er" ze. S. 64: Etwas keck,
vorlaut und rücksichtslos gerieth er (John Meyer) zuweilen mit Goethe in Con¬
flicte — S. 130: derb, kurz, spartanisch war ihm (Carl August) das
höfische Wesen zuwider. An einer Stelle hat die Sucht nach Kürze geradezu
zur Unklarheit geführt. Es heißt S. 91.. Jerusalem habe sich erschossen, „weil
sein durch Speculation gekränktes Ehrgefühl und schimpflich zurückgewiesenes
Verlangen nach der Frau eines Andern unerträglich gewordenes Leben (sie)
einen raschen gewaltsamen Abschluß verlangte". Ein einziges Wörtchen würde
alles klar machen, aber Goedeke karge mit diesem Wörtchen, und so können
sich die Leser den Kops zerbrechen oder — darüberhinlesen.

Wem soll man nun das Goedeke'sche Buch empfehlen? Wie aus allem
gesagten hervorgeht, unbedenklich jedem, der sich schon tüchtig in der Goethe¬
literatur umgethan hat und die Fähigkeit besitzt, über die stilistischen Eigen¬
thümlichkeiten des Verfassers sich hinwegzusetzen; für ihn wird es ein äußerst
reichhaltiges und zu tieferen Studien anregendes Repertorium sein. Freilich
muß man dabei vergessen, daß Repertorium von reperire, „auffinden", abzu¬
leiten ist. Denn weder ist durch Indices am Schlüsse des Buches dafür
gesorgt, daß man sich innerhalb desselben, noch durch die geringsten Quellen¬
nachweise, daß man sich außerhalb desselben in den Quellen zurechtfinden
kann. Aber Goedeke hat offenbar allen derartigen Apparat absichtlich ver¬
mieden, weil er zugleich ein lesbares Buch für das größere Publicum schreiben
wollte. Daß ihm das letztere gelungen, möchten wir bezweifeln. Wir fürchten,
daß der Laie dem Buche wenig Geschmack abgewinnen, am allerwenigsten,
ihm vor der Leistung von Lewes den Borzug geben wird. Aus einem Buche,
das so wenig redselig ist, und das die Dinge mittheilt, nicht um sie wie
etwas noch Unbekanntes eben mitzutheilen, sondern wie um an Bekanntes
auszugsweise zu erinnern, wird ein Leser, der dem Stoffe noch fremd gegen¬
übersteht, sich schwerlich unterrichten können und wollen.

Als Goethe anfing, die Selbstbiographie des Benvenuto Cellini deutsch
zu bearbeiten, wollte er sie ursprünglich in verkürzter Form geben. Allein --
so erzählt uns Goedeke selbst — es erschien ihm bald unmöglich: „denn was
ist das menschliche Leben im Auszuge? Alle pragmatische biographische
Charakteristik muß sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens ver¬
kriechen." Die Wahrheit dieses Goethe'schen Wortes erweist sich einigermaßen
G. W. an Goedeke's eigenem Buche.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/390>, abgerufen am 06.02.2025.