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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Ein Beitrag zur socialen Frage.

Wenn man von Bologna aus nach Toscana kommt, die breite Heer¬
straße ein wenig verläßt, den Gallerien und Museen für einige Tage entsagt
und durch die Felder wandelt, um Landbau und Ackersleute dort zu beob¬
achten, so wird man daselbst neben einer großen administrativen Unordnung
und schweren Steuern einen weit verbreiteten Wohlstand finden, eine redliche
fleißige Bevölkerung, welche mit ihrem Schicksale zufrieden ist, und, wenn
man in eines der bequemen luftigen Bauernhäuser tritt und sich mit den
Bewohnern unterredet, erstaunt man über die Aufgewecktheit, den richtigen
Verstand, die Menge von praktischen Kenntnissen und die Höflichkeit der For¬
men , welchen man unter der rauhen Hülle begegnet. Hier ist keine Gefahr
von socialen Fragen, keine Drohung von Arbeitseinstellung, keine Möglichkeit
von Kämpfen mit "ti-aäes unions" der Bauern, hier kennt man keine
communistischen Bewegungen der internationalen Arbeiterverbindung. Steigt
Man vom Apennin zu den Hügeln hinab, welche Pistoia beherrschen, so wird
man von Bewunderung ergriffen, bei dem schönen Panorama, welches das
Arnothal bietet. Zu den Füßen sieht der Wanderer ein weites Land sich
dehnen, das ihm wie ein Garten bebaut erscheint; die nahen Hügel sind von
Weinbergen bedeckt und beschattet von dem bleichen, grauschimmernden Laube
Zahlloser Oelbaumpflanzungen. Die Ebene streckt sich weit hin und Ulmen,
Maulbeerbäume und Reben sind in langen Reihen den Myriaden von Grä¬
ben und kleinen Bächen entlang gepflanzt, welche die mit Korn. Mais, Boh¬
nen, u. s. w. besäten Felder theilen. Ueberall erheben sich Häuser und agra¬
rische Bauten, welche sich so dicht aneinander reihen, daß das ganze Land bis
an seinen fernen Horizont die ungeheuere Borstadt irgend einer Weltstadt zu
sein scheint. In dieser ganzen Ausdehnung erhält und zeigt sich die Kultur
der Wirthschaft zu halbem Antheil.

Die Arbeitsfrage und die verschiedenen Systeme der V erth eilung des
hervorgebrachten Reichthums beschäftigen seit dem Jahre 1866 alle Geister in
Deutschland und sind, wie im Ministerrathe und der Kammer, so in den
Lehrsälen der Universitäten, ein Gegenstand des Studiums und der Erwä¬
gung. Mittlerweile wird der Kampf zwischen dem Kapital und der Arbeit
immer erbitterter und beginnt eine politische Färbung anzunehmen, da er
die fortwährende Drohung eines neuen Barbareneinfalles in sich trägt,
welcher das ganze Gebäude der modernen Civilisation über den Haufen
werfen würde.



s. "Grenzboten" I. 1875: Die ländlichen Arbeitn und die Agrarfrage in Großbritannien
von Mox Wirth.

Ein Beitrag zur socialen Frage.

Wenn man von Bologna aus nach Toscana kommt, die breite Heer¬
straße ein wenig verläßt, den Gallerien und Museen für einige Tage entsagt
und durch die Felder wandelt, um Landbau und Ackersleute dort zu beob¬
achten, so wird man daselbst neben einer großen administrativen Unordnung
und schweren Steuern einen weit verbreiteten Wohlstand finden, eine redliche
fleißige Bevölkerung, welche mit ihrem Schicksale zufrieden ist, und, wenn
man in eines der bequemen luftigen Bauernhäuser tritt und sich mit den
Bewohnern unterredet, erstaunt man über die Aufgewecktheit, den richtigen
Verstand, die Menge von praktischen Kenntnissen und die Höflichkeit der For¬
men , welchen man unter der rauhen Hülle begegnet. Hier ist keine Gefahr
von socialen Fragen, keine Drohung von Arbeitseinstellung, keine Möglichkeit
von Kämpfen mit „ti-aäes unions" der Bauern, hier kennt man keine
communistischen Bewegungen der internationalen Arbeiterverbindung. Steigt
Man vom Apennin zu den Hügeln hinab, welche Pistoia beherrschen, so wird
man von Bewunderung ergriffen, bei dem schönen Panorama, welches das
Arnothal bietet. Zu den Füßen sieht der Wanderer ein weites Land sich
dehnen, das ihm wie ein Garten bebaut erscheint; die nahen Hügel sind von
Weinbergen bedeckt und beschattet von dem bleichen, grauschimmernden Laube
Zahlloser Oelbaumpflanzungen. Die Ebene streckt sich weit hin und Ulmen,
Maulbeerbäume und Reben sind in langen Reihen den Myriaden von Grä¬
ben und kleinen Bächen entlang gepflanzt, welche die mit Korn. Mais, Boh¬
nen, u. s. w. besäten Felder theilen. Ueberall erheben sich Häuser und agra¬
rische Bauten, welche sich so dicht aneinander reihen, daß das ganze Land bis
an seinen fernen Horizont die ungeheuere Borstadt irgend einer Weltstadt zu
sein scheint. In dieser ganzen Ausdehnung erhält und zeigt sich die Kultur
der Wirthschaft zu halbem Antheil.

Die Arbeitsfrage und die verschiedenen Systeme der V erth eilung des
hervorgebrachten Reichthums beschäftigen seit dem Jahre 1866 alle Geister in
Deutschland und sind, wie im Ministerrathe und der Kammer, so in den
Lehrsälen der Universitäten, ein Gegenstand des Studiums und der Erwä¬
gung. Mittlerweile wird der Kampf zwischen dem Kapital und der Arbeit
immer erbitterter und beginnt eine politische Färbung anzunehmen, da er
die fortwährende Drohung eines neuen Barbareneinfalles in sich trägt,
welcher das ganze Gebäude der modernen Civilisation über den Haufen
werfen würde.



s. „Grenzboten" I. 1875: Die ländlichen Arbeitn und die Agrarfrage in Großbritannien
von Mox Wirth.
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[0355] Ein Beitrag zur socialen Frage. Wenn man von Bologna aus nach Toscana kommt, die breite Heer¬ straße ein wenig verläßt, den Gallerien und Museen für einige Tage entsagt und durch die Felder wandelt, um Landbau und Ackersleute dort zu beob¬ achten, so wird man daselbst neben einer großen administrativen Unordnung und schweren Steuern einen weit verbreiteten Wohlstand finden, eine redliche fleißige Bevölkerung, welche mit ihrem Schicksale zufrieden ist, und, wenn man in eines der bequemen luftigen Bauernhäuser tritt und sich mit den Bewohnern unterredet, erstaunt man über die Aufgewecktheit, den richtigen Verstand, die Menge von praktischen Kenntnissen und die Höflichkeit der For¬ men , welchen man unter der rauhen Hülle begegnet. Hier ist keine Gefahr von socialen Fragen, keine Drohung von Arbeitseinstellung, keine Möglichkeit von Kämpfen mit „ti-aäes unions" der Bauern, hier kennt man keine communistischen Bewegungen der internationalen Arbeiterverbindung. Steigt Man vom Apennin zu den Hügeln hinab, welche Pistoia beherrschen, so wird man von Bewunderung ergriffen, bei dem schönen Panorama, welches das Arnothal bietet. Zu den Füßen sieht der Wanderer ein weites Land sich dehnen, das ihm wie ein Garten bebaut erscheint; die nahen Hügel sind von Weinbergen bedeckt und beschattet von dem bleichen, grauschimmernden Laube Zahlloser Oelbaumpflanzungen. Die Ebene streckt sich weit hin und Ulmen, Maulbeerbäume und Reben sind in langen Reihen den Myriaden von Grä¬ ben und kleinen Bächen entlang gepflanzt, welche die mit Korn. Mais, Boh¬ nen, u. s. w. besäten Felder theilen. Ueberall erheben sich Häuser und agra¬ rische Bauten, welche sich so dicht aneinander reihen, daß das ganze Land bis an seinen fernen Horizont die ungeheuere Borstadt irgend einer Weltstadt zu sein scheint. In dieser ganzen Ausdehnung erhält und zeigt sich die Kultur der Wirthschaft zu halbem Antheil. Die Arbeitsfrage und die verschiedenen Systeme der V erth eilung des hervorgebrachten Reichthums beschäftigen seit dem Jahre 1866 alle Geister in Deutschland und sind, wie im Ministerrathe und der Kammer, so in den Lehrsälen der Universitäten, ein Gegenstand des Studiums und der Erwä¬ gung. Mittlerweile wird der Kampf zwischen dem Kapital und der Arbeit immer erbitterter und beginnt eine politische Färbung anzunehmen, da er die fortwährende Drohung eines neuen Barbareneinfalles in sich trägt, welcher das ganze Gebäude der modernen Civilisation über den Haufen werfen würde. s. „Grenzboten" I. 1875: Die ländlichen Arbeitn und die Agrarfrage in Großbritannien von Mox Wirth.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/355>, abgerufen am 06.02.2025.