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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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bis zu seiner Mündigkeit an seine rechte Mütter abtreten muß, die nach dem
Osten verzogen ist.

Zehn Jahre später naht der Moment, wo Carry sich entscheiden muß,
wem sie angehören will, ob jener rechten Mutter, oder Frau Starbottle, die
sie unterdeß, wieder Wittwe geworden, und wieder in bedrängten Verhältnissen,
mit Aufopferung zu unterstützen fortgefahren hat, und die nun todtkrank
nach dem Orte kommt, wo Carry in einem Pensionat erzogen wird. Carry
hat sie inzwischen halb vergessen, sie neigt mehr zu ihrer rechten Mutter hin,
sie ahnt nicht, was die Stiefmutter für sie gesorgt und geopfert. Eine Schul¬
freundin hilft ihr indeß aus den rechten Weg, und Carry entscheidet sich,
Frau Starbottle zunächst zu sehen und dann wieder ihr Kind zu sein. Sie
ziehen mit dem Redacteur des Blättchens, das meist die Poesien der Dichte¬
rin gebracht, einem Freunde derselben, der sie von Californien als Helfer
und Berather nach dem Osten begleitet hat, in ein Landhäuschen, um den
Sommer und die Wiederkehr der Gesundheit von Frau Starbottle zu erwar-
ten. Aber statt dieser kommt der Tod.

"Plötzlich sank vom Himmel ein Tag so zart, so mystisch mild, so träu¬
merisch schön, so pulsirend, so lebendig vom Flattern unsichtbarer Schwingen,
so voll, so überströmend von einer erweckenden, freudenvoller Auferstehung,
wie sie die Menschen nicht lehren und Glaubensbekenntnisse nicht einschrän¬
ken, -- daß man es für passend hielt, sie ins Freie zu tragen und in den
herrlichen Sonnenschein zu legen, der die glücklichen Fensterstürze und Thüren
wie mit den Feuertropfen einer Brandfackel beträufelte. Und da lag sie in
seliger Ruhe. Ermüdet von Nachtwachen, war Carry an ihrer Seite in
Schlaf gefallen, und Frau Starbottle's magere Finger lagen, wie um sie zu
segnen, auf ihrem Haupte. Bald darauf rief sie Jack (so heißt ihr Begleiter)
neben sich hin.

"Wer war das. die soeben hereinkam?" flüsterte sie. -- "Fräulein
Corlear" (die Schulfreundin Carry's, die sie ihrer Stiefmutter wieder zugeführt
hat) sagte Jack, indem er dem fragenden Blicke in ihren großen hohlen An'
gen antwortete. -- "Jack", sagte sie, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen
"setze Dich einen Moment neben mich, lieber Jack, ich habe Dir etwas
sagen. Wenn ich Dir in früheren Tagen je hart oder kalt oder gefallsüch^l!
vorgekommen bin, so war es, weil ich Dich, Jack, zu sehr liebte, um Dein?
Zukunft dadurch zu stören, daß ich sie mit der meinen verband. Ich h"^
Dich immer geliebt, liebster Jack, und selbst dann, wo ich Deiner am wenig'
sten würdig schien. Das ist jetzt dahin, aber ich habe neulich einen Trau>"
gehabt, den Traum eines thörichten Weibes, daß Du, was mir mangelte,
ihr finden könntest", und sie blickte liebevoll auf das schlafende Mädchen ^
ihrer Seite -- "daß Du sie lieben könntest, wie Du mich geliebt hast. ^


bis zu seiner Mündigkeit an seine rechte Mütter abtreten muß, die nach dem
Osten verzogen ist.

Zehn Jahre später naht der Moment, wo Carry sich entscheiden muß,
wem sie angehören will, ob jener rechten Mutter, oder Frau Starbottle, die
sie unterdeß, wieder Wittwe geworden, und wieder in bedrängten Verhältnissen,
mit Aufopferung zu unterstützen fortgefahren hat, und die nun todtkrank
nach dem Orte kommt, wo Carry in einem Pensionat erzogen wird. Carry
hat sie inzwischen halb vergessen, sie neigt mehr zu ihrer rechten Mutter hin,
sie ahnt nicht, was die Stiefmutter für sie gesorgt und geopfert. Eine Schul¬
freundin hilft ihr indeß aus den rechten Weg, und Carry entscheidet sich,
Frau Starbottle zunächst zu sehen und dann wieder ihr Kind zu sein. Sie
ziehen mit dem Redacteur des Blättchens, das meist die Poesien der Dichte¬
rin gebracht, einem Freunde derselben, der sie von Californien als Helfer
und Berather nach dem Osten begleitet hat, in ein Landhäuschen, um den
Sommer und die Wiederkehr der Gesundheit von Frau Starbottle zu erwar-
ten. Aber statt dieser kommt der Tod.

„Plötzlich sank vom Himmel ein Tag so zart, so mystisch mild, so träu¬
merisch schön, so pulsirend, so lebendig vom Flattern unsichtbarer Schwingen,
so voll, so überströmend von einer erweckenden, freudenvoller Auferstehung,
wie sie die Menschen nicht lehren und Glaubensbekenntnisse nicht einschrän¬
ken, — daß man es für passend hielt, sie ins Freie zu tragen und in den
herrlichen Sonnenschein zu legen, der die glücklichen Fensterstürze und Thüren
wie mit den Feuertropfen einer Brandfackel beträufelte. Und da lag sie in
seliger Ruhe. Ermüdet von Nachtwachen, war Carry an ihrer Seite in
Schlaf gefallen, und Frau Starbottle's magere Finger lagen, wie um sie zu
segnen, auf ihrem Haupte. Bald darauf rief sie Jack (so heißt ihr Begleiter)
neben sich hin.

„Wer war das. die soeben hereinkam?" flüsterte sie. — „Fräulein
Corlear" (die Schulfreundin Carry's, die sie ihrer Stiefmutter wieder zugeführt
hat) sagte Jack, indem er dem fragenden Blicke in ihren großen hohlen An'
gen antwortete. — „Jack", sagte sie, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen
„setze Dich einen Moment neben mich, lieber Jack, ich habe Dir etwas
sagen. Wenn ich Dir in früheren Tagen je hart oder kalt oder gefallsüch^l!
vorgekommen bin, so war es, weil ich Dich, Jack, zu sehr liebte, um Dein?
Zukunft dadurch zu stören, daß ich sie mit der meinen verband. Ich h"^
Dich immer geliebt, liebster Jack, und selbst dann, wo ich Deiner am wenig'
sten würdig schien. Das ist jetzt dahin, aber ich habe neulich einen Trau>"
gehabt, den Traum eines thörichten Weibes, daß Du, was mir mangelte,
ihr finden könntest", und sie blickte liebevoll auf das schlafende Mädchen ^
ihrer Seite — „daß Du sie lieben könntest, wie Du mich geliebt hast. ^


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/350>, abgerufen am 06.02.2025.