Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.Mensch gegen Mensch gehalten, und mit dem Maaßstab der Sittlichkeit ge¬ Wir sind hiermit an den Wendepunkt im Leben des Dichters gelangt. Mensch gegen Mensch gehalten, und mit dem Maaßstab der Sittlichkeit ge¬ Wir sind hiermit an den Wendepunkt im Leben des Dichters gelangt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0298" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133586"/> <p xml:id="ID_933" prev="#ID_932"> Mensch gegen Mensch gehalten, und mit dem Maaßstab der Sittlichkeit ge¬<lb/> messen, steht zwar der Dichter viel höher als der römische Alleinherrscher,<lb/> der bekanntlich trotz seiner Ehr- und Sittlichkeitsgesetze selbst das Ehebett<lb/> seines treuesten Freundes und Dieners, des Agrippa, nicht schonte, — aber<lb/> wer wollte den Gewaltigen wegen seiner Sünden zur Rechenschaft ziehen?<lb/> Ovid mußte sich stumm seinem Gebot unterwerfen und recht zum Zeichen,<lb/> daß der strenge Sittenmeister die von dem Dichter ausgehende Richtung der<lb/> Poesie verdammte, wurden seine Werke aus den öffentlichen Bibliotheken ent¬<lb/> fernt und wahrscheinlich verbrannt. Eines der frühesten Beispiele, daß Todes¬<lb/> strafe an Werken der Kunst vollzogen wurden; ziemlich um dieselbe Zeit scheinen<lb/> «auch die Schriften des Pamphletisten Cassius Severus und die des großen<lb/> Republikaners Labienus in Flammen aufgegangen zu sein; die Folge war<lb/> dieselbe, wie noch heut zu Tag: sie wurden um so eifriger gelesen, Ovid war<lb/> und blieb der Dichter der verbotenen Liebe; seine ungemeine Popularität zeigt<lb/> sich schon in dem einzigen Zuge, daß sich an Mauern von Pompeji einzelne<lb/> seiner Verse in rohen Zügen angeschrieben finden — doch wohl von Ver¬<lb/> ehrern seiner Gattung.</p><lb/> <p xml:id="ID_934" next="#ID_935"> Wir sind hiermit an den Wendepunkt im Leben des Dichters gelangt.<lb/> Wir wollen nicht Zeuge sein, jener herzzerreißenden Trennung von seinen Lieben<lb/> in der letzten Winternacht, die er in Rom zubrachte, wir wollen ihn auch<lb/> nicht begleiten auf seiner traurigen und stürmischen Fahrt nach der Stätte<lb/> seines Schicksals, wollen uns auch nicht alle einzelnen Züge seines dortigen<lb/> Aufenthalts vergegenwärtigen und gern glauben, daß nicht einmal seine<lb/> Muse mehr, sondern nur noch die Hoffnung einer Milderung, oder gar eines<lb/> vollständigen Gnadenactes ihn über das Elend seines Daseins wenigstens in-<lb/> so weit hinweghob, daß sie ihn vor dem Selbstmord bewahrte. Es ist be¬<lb/> greiflich, daß eine Natur wie die seinige, weich, empfänglich für Genuß, ge¬<lb/> bildet und genährt durch geselligen Umgang, gewöhnt an allen Comfort der<lb/> üppigen Hauptstadt, tonangebend in den gebildeten Kreisen, verwöhnt durch<lb/> glänzende Erfolge, daß eine solche unter der Wucht des Schicksalschlages zu¬<lb/> sammenbrechen mußte; nicht bloß das Herz, auch der Geist war tödtlich ge¬<lb/> troffen. Ein ächter Römer aus der alten Schule, deren Kraft das Unglück<lb/> stählt, die des Schicksals spotten, wenn es sie langsam zu zerreiben droht und<lb/> kaltblütig den Lebensfaden selber zerreißen, war Ovid nicht; man möchte sein<lb/> Klagen und Verzagen nicht bloß unrömisch sondern geradezu unmännlich<lb/> finden, aber es zieht sich durch seine aus der Einöde klingenden Lieder ein<lb/> eigenthümlicher, an moderne Art anklingender Zug von Heimweh und Liebes¬<lb/> bedürftigkeit, der uns mindestens so angenehm anmuthet als sonst das stahl¬<lb/> harte Römerthum. Sein Sehnen nach dem treuen Weibe, das er, obwohl<lb/> sie sein Verbanntenloos theilen wollte, zum Schutze seiner Angelegenheiten in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0298]
Mensch gegen Mensch gehalten, und mit dem Maaßstab der Sittlichkeit ge¬
messen, steht zwar der Dichter viel höher als der römische Alleinherrscher,
der bekanntlich trotz seiner Ehr- und Sittlichkeitsgesetze selbst das Ehebett
seines treuesten Freundes und Dieners, des Agrippa, nicht schonte, — aber
wer wollte den Gewaltigen wegen seiner Sünden zur Rechenschaft ziehen?
Ovid mußte sich stumm seinem Gebot unterwerfen und recht zum Zeichen,
daß der strenge Sittenmeister die von dem Dichter ausgehende Richtung der
Poesie verdammte, wurden seine Werke aus den öffentlichen Bibliotheken ent¬
fernt und wahrscheinlich verbrannt. Eines der frühesten Beispiele, daß Todes¬
strafe an Werken der Kunst vollzogen wurden; ziemlich um dieselbe Zeit scheinen
«auch die Schriften des Pamphletisten Cassius Severus und die des großen
Republikaners Labienus in Flammen aufgegangen zu sein; die Folge war
dieselbe, wie noch heut zu Tag: sie wurden um so eifriger gelesen, Ovid war
und blieb der Dichter der verbotenen Liebe; seine ungemeine Popularität zeigt
sich schon in dem einzigen Zuge, daß sich an Mauern von Pompeji einzelne
seiner Verse in rohen Zügen angeschrieben finden — doch wohl von Ver¬
ehrern seiner Gattung.
Wir sind hiermit an den Wendepunkt im Leben des Dichters gelangt.
Wir wollen nicht Zeuge sein, jener herzzerreißenden Trennung von seinen Lieben
in der letzten Winternacht, die er in Rom zubrachte, wir wollen ihn auch
nicht begleiten auf seiner traurigen und stürmischen Fahrt nach der Stätte
seines Schicksals, wollen uns auch nicht alle einzelnen Züge seines dortigen
Aufenthalts vergegenwärtigen und gern glauben, daß nicht einmal seine
Muse mehr, sondern nur noch die Hoffnung einer Milderung, oder gar eines
vollständigen Gnadenactes ihn über das Elend seines Daseins wenigstens in-
so weit hinweghob, daß sie ihn vor dem Selbstmord bewahrte. Es ist be¬
greiflich, daß eine Natur wie die seinige, weich, empfänglich für Genuß, ge¬
bildet und genährt durch geselligen Umgang, gewöhnt an allen Comfort der
üppigen Hauptstadt, tonangebend in den gebildeten Kreisen, verwöhnt durch
glänzende Erfolge, daß eine solche unter der Wucht des Schicksalschlages zu¬
sammenbrechen mußte; nicht bloß das Herz, auch der Geist war tödtlich ge¬
troffen. Ein ächter Römer aus der alten Schule, deren Kraft das Unglück
stählt, die des Schicksals spotten, wenn es sie langsam zu zerreiben droht und
kaltblütig den Lebensfaden selber zerreißen, war Ovid nicht; man möchte sein
Klagen und Verzagen nicht bloß unrömisch sondern geradezu unmännlich
finden, aber es zieht sich durch seine aus der Einöde klingenden Lieder ein
eigenthümlicher, an moderne Art anklingender Zug von Heimweh und Liebes¬
bedürftigkeit, der uns mindestens so angenehm anmuthet als sonst das stahl¬
harte Römerthum. Sein Sehnen nach dem treuen Weibe, das er, obwohl
sie sein Verbanntenloos theilen wollte, zum Schutze seiner Angelegenheiten in
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