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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Erfindung Ovid mit vielem Selbstbewußtsein sich selber, und mit Recht, zu
schreibt. Es sind fingirte Ergüsse der Liebessehnsucht nach dem abwesenden
Geliebten oder Gatten; die Schriftstellerinnen sind also Damen, und zwar
theilweise sehr respectable, wie Penelope, Laodamia, Ariadne u. a. Einige
dieser Schriftstücke verrathen sich durch frostigen Ton und rhetorische Ueber¬
ladung als unächte, aber gerade das ist ein Beweis, daß die Gattung sich
großer Beliebtheit erfreute. Unserm modernen Geschmack sagt sie nicht zu.
Zwar finden sich in den ächten, von Ovid herrührenden Briefen Töne ange¬
schlagen, welche in der alten Litteratur so selten als wunderbar klingen: Töne
nämlich aus der Tiefe eines ächt liebenden Herzens, voller Innigkeit und
Wärme, die Gluth der Leidenschaft oft verklärt durch seelische Empfindung --
aber schon die äußere Voraussetzung, das Vehikel eines Briefes in der heroischen
Zeit, dann aber auch die modernisirende beinah sentimentale Färbung des
Inhaltes, dieser Verstoß gegen die Wahrheit, endlich der rhetorisch-affectirte
Charakter der Darstellung läßt keine Sympathie weder für die Gattung noch
für die Person in uns aufkommen. Die Herolden sind in der That nicht
viel anders als die Form einer dichterischen Suasoria. Unter den Producten
aus dem erotischen Kreise ist die vollendetste die ungefähr zu Anfang unserer
Zeitrechnung erschienene "Liebeskunst" "g.rs amancli" oder "ars amatoria"
womit in engster, sachlicher und zeitlicher Verbindung stehen die "Heilmittel
der Liebe" (rewecks, amoris), gleichsam eine Kritik jenes Systems, nebenher
und eine Episode zur erstgenannten bildend, gehen die unvollendet gebliebenen
"Toilettenkünste (remeSig, taeisi). Die "Liebeskunst", die im ersten Buch
zu wählen, im zweiten zu gewinnen, im dritten zu erhalten lehrt, ist
zwar ein Lehrgedicht, aber sowohl der völlig originelle Inhalt als auch die
formelle Vollendung desselben in jeder Beziehung bekunden die glänzende
Begabung des Dichters. Es bedürfte einer Genialität wie die seinige, um
aus einem didactischen Stoffe ein so ansprechendes Gemälde zu schaffen, in
welchem die reizendsten wärmsten Farben uns entgegenleuchten und ein bunter
Wechsel der Situation in sprudelnder Beweglichkeit und dem graziösesten
Formenspiel unsern Blick anzieht. Aber nicht bloß ist das Colorit ein
glänzendes, auch die Zeichnung ist correct; römische Sitte und Cultur er¬
scheinen hier bis ins Detail und in die feinsten Züge ausgeführt von einem
Beobachter, der an geistreicher Auffassung keinem nachstand und der gerade
für die Beleuchtung der Liebe, in welcher jene Gesellschaft erscheint, den
schärfsten Blick und die größte Empfänglichkeit mitbrachte. Ovid's Kunst hat
den sinnlich-socialen Verkehr der Männer und Frauen inmitten luxuriöser
Hauptstädte für immer gezeichnet. In keinem zeitgenössischen Dichter spiegelt
sich das Wesen und Treiben der äemi-monüv mit solcher Unbefangenheit und
Anschaulichkeit, und die vielen Perspectiven auf andere Kreise, die uns der


Erfindung Ovid mit vielem Selbstbewußtsein sich selber, und mit Recht, zu
schreibt. Es sind fingirte Ergüsse der Liebessehnsucht nach dem abwesenden
Geliebten oder Gatten; die Schriftstellerinnen sind also Damen, und zwar
theilweise sehr respectable, wie Penelope, Laodamia, Ariadne u. a. Einige
dieser Schriftstücke verrathen sich durch frostigen Ton und rhetorische Ueber¬
ladung als unächte, aber gerade das ist ein Beweis, daß die Gattung sich
großer Beliebtheit erfreute. Unserm modernen Geschmack sagt sie nicht zu.
Zwar finden sich in den ächten, von Ovid herrührenden Briefen Töne ange¬
schlagen, welche in der alten Litteratur so selten als wunderbar klingen: Töne
nämlich aus der Tiefe eines ächt liebenden Herzens, voller Innigkeit und
Wärme, die Gluth der Leidenschaft oft verklärt durch seelische Empfindung —
aber schon die äußere Voraussetzung, das Vehikel eines Briefes in der heroischen
Zeit, dann aber auch die modernisirende beinah sentimentale Färbung des
Inhaltes, dieser Verstoß gegen die Wahrheit, endlich der rhetorisch-affectirte
Charakter der Darstellung läßt keine Sympathie weder für die Gattung noch
für die Person in uns aufkommen. Die Herolden sind in der That nicht
viel anders als die Form einer dichterischen Suasoria. Unter den Producten
aus dem erotischen Kreise ist die vollendetste die ungefähr zu Anfang unserer
Zeitrechnung erschienene „Liebeskunst" „g.rs amancli" oder „ars amatoria"
womit in engster, sachlicher und zeitlicher Verbindung stehen die „Heilmittel
der Liebe" (rewecks, amoris), gleichsam eine Kritik jenes Systems, nebenher
und eine Episode zur erstgenannten bildend, gehen die unvollendet gebliebenen
„Toilettenkünste (remeSig, taeisi). Die „Liebeskunst", die im ersten Buch
zu wählen, im zweiten zu gewinnen, im dritten zu erhalten lehrt, ist
zwar ein Lehrgedicht, aber sowohl der völlig originelle Inhalt als auch die
formelle Vollendung desselben in jeder Beziehung bekunden die glänzende
Begabung des Dichters. Es bedürfte einer Genialität wie die seinige, um
aus einem didactischen Stoffe ein so ansprechendes Gemälde zu schaffen, in
welchem die reizendsten wärmsten Farben uns entgegenleuchten und ein bunter
Wechsel der Situation in sprudelnder Beweglichkeit und dem graziösesten
Formenspiel unsern Blick anzieht. Aber nicht bloß ist das Colorit ein
glänzendes, auch die Zeichnung ist correct; römische Sitte und Cultur er¬
scheinen hier bis ins Detail und in die feinsten Züge ausgeführt von einem
Beobachter, der an geistreicher Auffassung keinem nachstand und der gerade
für die Beleuchtung der Liebe, in welcher jene Gesellschaft erscheint, den
schärfsten Blick und die größte Empfänglichkeit mitbrachte. Ovid's Kunst hat
den sinnlich-socialen Verkehr der Männer und Frauen inmitten luxuriöser
Hauptstädte für immer gezeichnet. In keinem zeitgenössischen Dichter spiegelt
sich das Wesen und Treiben der äemi-monüv mit solcher Unbefangenheit und
Anschaulichkeit, und die vielen Perspectiven auf andere Kreise, die uns der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/294>, abgerufen am 06.02.2025.