Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.Der Protestantismus entfesselt die religiöse Individualität und befreit sie Es ist die Gefahr des Protestantismus eine zweifache, einmal die Indi¬ Trotz dieser vorhandnen Spaltungen, das Gefühl der Zusammengehörig¬ Doch fehlt es auch nicht an Bestrebungen, die bestimmte concrete Aufgaben Der Protestantismus entfesselt die religiöse Individualität und befreit sie Es ist die Gefahr des Protestantismus eine zweifache, einmal die Indi¬ Trotz dieser vorhandnen Spaltungen, das Gefühl der Zusammengehörig¬ Doch fehlt es auch nicht an Bestrebungen, die bestimmte concrete Aufgaben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133560"/> <p xml:id="ID_861"> Der Protestantismus entfesselt die religiöse Individualität und befreit sie<lb/> von der bindenden Autorität menschlicher Ueberlieferung; er führt sie zu den<lb/> Quellen ursprünglicher Selbstbezeugung des Christenthums zurück und legt<lb/> das Verständniß derselben vertrauensvoll in die Hände der geschichtlichen Ent¬<lb/> wicklung des christlichen Geistes, an welcher jede christliche Individualität<lb/> mitarbeitet. So entwickelt sich ein Reichthum eigenthümlicher Spieglungen<lb/> des Christenthums, so treten die mannichfaltigsten Auffassungen, die verschieden¬<lb/> artigsten Gestaltungen und Bildungen der christlichen Idee hervor. Sehen<lb/> dieselben sich als relativ berechtigte, sich gegenseitig ergänzende Richtungen<lb/> an, so ist beides gewahrt, die Einheit und die Freiheit. Betrachtet sich aber<lb/> eine jede als die einzig vollkommene und wahre, absolute und die andere<lb/> daher als schlechthin irrig ausschließende Realisirung der christlichen Idee, so<lb/> geht die Einheit in der Freiheit verloren.</p><lb/> <p xml:id="ID_862"> Es ist die Gefahr des Protestantismus eine zweifache, einmal die Indi¬<lb/> vidualität so einseitig auszubilden, in ihrer Entwicklung in solchem Maße<lb/> den geschichtlich ausgeprägten Typus zu verlassen, daß sie in ihrer ursprüng¬<lb/> lichen Tendenz und in ihrem wesentlichen Gehalt andern protestantischen<lb/> Individualitäten nicht mehr erkennbar wird, sich ihnen nicht mehr als ihr<lb/> eignes Fleisch und Blut legitimiren kann; sodann der eignen Individualität,<lb/> und wäre es auch nur im Prinzip, absoluten Werth zuzuerkennen. Der<lb/> Protestantismus setzt ein hohes Maß der Selbstverleugnung und Selbstbe¬<lb/> schränkung voraus, ohne dasselbe zerfällt er und löst sich auf. Daß er that¬<lb/> sächlich nicht diese Forderung, wenigstens nicht ausreichend, erfüllt hat, bedarf<lb/> keines Beweises. Die vielen Zertrennungen innerhalb des Protestantismus<lb/> und innerhalb der einzelnen protestantischen Gemeinschaften legen dccsür ein<lb/> unwiderlegliches trauriges Zeugniß ab.</p><lb/> <p xml:id="ID_863"> Trotz dieser vorhandnen Spaltungen, das Gefühl der Zusammengehörig¬<lb/> keit zu wecken und zu beleben, das ist die Aufgabe, welche die Allianz sich<lb/> stellt. Man darf sie daher nicht verurtheilen, weil sie wenig einzelne greif¬<lb/> bare und sichtbare Erfolge aufzuweisen vermag. Ihr wesentlicher Zweck fällt,<lb/> wie wir gesehen haben, eben in das Innere des religiösen Lebens, und die<lb/> Wirkungen, die sie erzielt, sind keine meßbaren Größen.</p><lb/> <p xml:id="ID_864"> Doch fehlt es auch nicht an Bestrebungen, die bestimmte concrete Aufgaben<lb/> ins Auge fassen, und deren energische Verfolgung allgemeinere Aufmerksam¬<lb/> keit erregt und allgemeinere Anerkennung gewonnen haben. Die evangelische<lb/> Allianz ist die unermüdliche Vorkämpferin der Religionsfreiheit; überall, wo<lb/> das protestantische Glaubensbekenntniß unterdrückt und seine Angehörigen<lb/> verfolgt werden, erhebt die Allianz laut ihre Stimme, und ihre Mahnrufe<lb/> sind nicht vergeblich geblieben.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0272]
Der Protestantismus entfesselt die religiöse Individualität und befreit sie
von der bindenden Autorität menschlicher Ueberlieferung; er führt sie zu den
Quellen ursprünglicher Selbstbezeugung des Christenthums zurück und legt
das Verständniß derselben vertrauensvoll in die Hände der geschichtlichen Ent¬
wicklung des christlichen Geistes, an welcher jede christliche Individualität
mitarbeitet. So entwickelt sich ein Reichthum eigenthümlicher Spieglungen
des Christenthums, so treten die mannichfaltigsten Auffassungen, die verschieden¬
artigsten Gestaltungen und Bildungen der christlichen Idee hervor. Sehen
dieselben sich als relativ berechtigte, sich gegenseitig ergänzende Richtungen
an, so ist beides gewahrt, die Einheit und die Freiheit. Betrachtet sich aber
eine jede als die einzig vollkommene und wahre, absolute und die andere
daher als schlechthin irrig ausschließende Realisirung der christlichen Idee, so
geht die Einheit in der Freiheit verloren.
Es ist die Gefahr des Protestantismus eine zweifache, einmal die Indi¬
vidualität so einseitig auszubilden, in ihrer Entwicklung in solchem Maße
den geschichtlich ausgeprägten Typus zu verlassen, daß sie in ihrer ursprüng¬
lichen Tendenz und in ihrem wesentlichen Gehalt andern protestantischen
Individualitäten nicht mehr erkennbar wird, sich ihnen nicht mehr als ihr
eignes Fleisch und Blut legitimiren kann; sodann der eignen Individualität,
und wäre es auch nur im Prinzip, absoluten Werth zuzuerkennen. Der
Protestantismus setzt ein hohes Maß der Selbstverleugnung und Selbstbe¬
schränkung voraus, ohne dasselbe zerfällt er und löst sich auf. Daß er that¬
sächlich nicht diese Forderung, wenigstens nicht ausreichend, erfüllt hat, bedarf
keines Beweises. Die vielen Zertrennungen innerhalb des Protestantismus
und innerhalb der einzelnen protestantischen Gemeinschaften legen dccsür ein
unwiderlegliches trauriges Zeugniß ab.
Trotz dieser vorhandnen Spaltungen, das Gefühl der Zusammengehörig¬
keit zu wecken und zu beleben, das ist die Aufgabe, welche die Allianz sich
stellt. Man darf sie daher nicht verurtheilen, weil sie wenig einzelne greif¬
bare und sichtbare Erfolge aufzuweisen vermag. Ihr wesentlicher Zweck fällt,
wie wir gesehen haben, eben in das Innere des religiösen Lebens, und die
Wirkungen, die sie erzielt, sind keine meßbaren Größen.
Doch fehlt es auch nicht an Bestrebungen, die bestimmte concrete Aufgaben
ins Auge fassen, und deren energische Verfolgung allgemeinere Aufmerksam¬
keit erregt und allgemeinere Anerkennung gewonnen haben. Die evangelische
Allianz ist die unermüdliche Vorkämpferin der Religionsfreiheit; überall, wo
das protestantische Glaubensbekenntniß unterdrückt und seine Angehörigen
verfolgt werden, erhebt die Allianz laut ihre Stimme, und ihre Mahnrufe
sind nicht vergeblich geblieben.
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