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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Cicero und die beiden Senatoren, die Tribunen Flavius und Marullus, die
fünf "Freunde des Brutus", vier von den Sklaven des Brutus, der Diener
des Cassius, der Wahrsager, "Cinna ein Poet" und "ein anderer Poet"
gänzlich -- wahrlich nicht zum Schaden des dramatischen Effects. Denn die
Bedeutung eines Mannes wie Cicero z. B. wird außerordentlich viel klarer
zur Anschauung gebracht, wenn Brutus bei der Nachricht von Cicero's Ende
bei Kruse über ihn sagt:


"Er war ein liebevoller, edler Mensch,
Hing treu und warm an seinem Vaterlande,
Und alle seine Schwächen deckt das Grab;"

als wenn Shakespaere den Casea über Cicero sagen läßt: "Er sprach Griechisch,
aber wenn ich Euch sagen sollte, was er wollte, so will ich Euch niemals
wieder vor die Augen kommen. Die ihn verstanden, lächelten einander zu
und schüttelten die Köpfe." Oder wenn Cicero sich in der nächsten Scene
zu dem Gemeinplatz aufschwingt:


"Doch Menschen deuten oft nach ihrer Weise
Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn,"

oder gar, am Schlüsse dieser Scenen die Behauptung wagt: "Dieser Auf¬
ruhr (der Elemente) läßt nicht draußen weilen", d. h. das Wetter ist zu
schlecht, man wird sich einen tüchtigen Schnupfen holen. Leute von dieser
nimium dramatischen Bedeutung führt Kruse im Personenregister gar nicht
auf, auch wenn sie in der Weltgeschichte Cato Hirtius und Pansa heißen
und in seinem Stücke ein halb Dutzend Verse zu sprechen haben. ^

Von weit größerer Verschiedenheit aber ist der Gang der Handlung in
den beiden Dramen.

Paul Lindau hat den Nachweis versucht, eine gewisse Uebereinstimmung
im sacrarium der ersten drei Akte bei Shakespeare und Kruse nachzuweisen.
Und soweit vielleicht mit Glück, als in beiden Dramen der erste Act die Ex-
Position, der zweite die Verschwörung, der dritte die Ermordung enthält.
Allein diese Gleichartigkeit der dramatischen Entwickelung in den ersten drei
Akten liegt in der Natur des gleichen Stoffes. Jeder Dichter muß
dieses Drama beginnen lassen mit dem Versuch des Cassius, den Brutus in
die Verschwörung hineinzuziehen, und muß es enden lassen mit dem Unter¬
gang der beiden letzten Römer bei Philippi. Dieser Zwang der Com-
Position sowohl wie der zeitlichen Grenzen des Stückes liegt im Stoff. Jeder
Dichter von natürlichem Gefühl muß sich diesem Zwange fügen; er wird sich
dabei so frei wissen von einer sklavischen Nachahmung des Shakespeare, wie
der Vogel, der sein Lied singt, von den Traditionen seiner Altvordern. Ja,
was Kruse anlangt, so ist bei ihm die Gliederung der ersten drei Acte in
Exposition, Verschwörung, Ermordung viel strenger und reiner durchgeführt,


Cicero und die beiden Senatoren, die Tribunen Flavius und Marullus, die
fünf „Freunde des Brutus", vier von den Sklaven des Brutus, der Diener
des Cassius, der Wahrsager, „Cinna ein Poet" und „ein anderer Poet"
gänzlich — wahrlich nicht zum Schaden des dramatischen Effects. Denn die
Bedeutung eines Mannes wie Cicero z. B. wird außerordentlich viel klarer
zur Anschauung gebracht, wenn Brutus bei der Nachricht von Cicero's Ende
bei Kruse über ihn sagt:


„Er war ein liebevoller, edler Mensch,
Hing treu und warm an seinem Vaterlande,
Und alle seine Schwächen deckt das Grab;"

als wenn Shakespaere den Casea über Cicero sagen läßt: „Er sprach Griechisch,
aber wenn ich Euch sagen sollte, was er wollte, so will ich Euch niemals
wieder vor die Augen kommen. Die ihn verstanden, lächelten einander zu
und schüttelten die Köpfe." Oder wenn Cicero sich in der nächsten Scene
zu dem Gemeinplatz aufschwingt:


„Doch Menschen deuten oft nach ihrer Weise
Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn,"

oder gar, am Schlüsse dieser Scenen die Behauptung wagt: „Dieser Auf¬
ruhr (der Elemente) läßt nicht draußen weilen", d. h. das Wetter ist zu
schlecht, man wird sich einen tüchtigen Schnupfen holen. Leute von dieser
nimium dramatischen Bedeutung führt Kruse im Personenregister gar nicht
auf, auch wenn sie in der Weltgeschichte Cato Hirtius und Pansa heißen
und in seinem Stücke ein halb Dutzend Verse zu sprechen haben. ^

Von weit größerer Verschiedenheit aber ist der Gang der Handlung in
den beiden Dramen.

Paul Lindau hat den Nachweis versucht, eine gewisse Uebereinstimmung
im sacrarium der ersten drei Akte bei Shakespeare und Kruse nachzuweisen.
Und soweit vielleicht mit Glück, als in beiden Dramen der erste Act die Ex-
Position, der zweite die Verschwörung, der dritte die Ermordung enthält.
Allein diese Gleichartigkeit der dramatischen Entwickelung in den ersten drei
Akten liegt in der Natur des gleichen Stoffes. Jeder Dichter muß
dieses Drama beginnen lassen mit dem Versuch des Cassius, den Brutus in
die Verschwörung hineinzuziehen, und muß es enden lassen mit dem Unter¬
gang der beiden letzten Römer bei Philippi. Dieser Zwang der Com-
Position sowohl wie der zeitlichen Grenzen des Stückes liegt im Stoff. Jeder
Dichter von natürlichem Gefühl muß sich diesem Zwange fügen; er wird sich
dabei so frei wissen von einer sklavischen Nachahmung des Shakespeare, wie
der Vogel, der sein Lied singt, von den Traditionen seiner Altvordern. Ja,
was Kruse anlangt, so ist bei ihm die Gliederung der ersten drei Acte in
Exposition, Verschwörung, Ermordung viel strenger und reiner durchgeführt,


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[0251] Cicero und die beiden Senatoren, die Tribunen Flavius und Marullus, die fünf „Freunde des Brutus", vier von den Sklaven des Brutus, der Diener des Cassius, der Wahrsager, „Cinna ein Poet" und „ein anderer Poet" gänzlich — wahrlich nicht zum Schaden des dramatischen Effects. Denn die Bedeutung eines Mannes wie Cicero z. B. wird außerordentlich viel klarer zur Anschauung gebracht, wenn Brutus bei der Nachricht von Cicero's Ende bei Kruse über ihn sagt: „Er war ein liebevoller, edler Mensch, Hing treu und warm an seinem Vaterlande, Und alle seine Schwächen deckt das Grab;" als wenn Shakespaere den Casea über Cicero sagen läßt: „Er sprach Griechisch, aber wenn ich Euch sagen sollte, was er wollte, so will ich Euch niemals wieder vor die Augen kommen. Die ihn verstanden, lächelten einander zu und schüttelten die Köpfe." Oder wenn Cicero sich in der nächsten Scene zu dem Gemeinplatz aufschwingt: „Doch Menschen deuten oft nach ihrer Weise Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn," oder gar, am Schlüsse dieser Scenen die Behauptung wagt: „Dieser Auf¬ ruhr (der Elemente) läßt nicht draußen weilen", d. h. das Wetter ist zu schlecht, man wird sich einen tüchtigen Schnupfen holen. Leute von dieser nimium dramatischen Bedeutung führt Kruse im Personenregister gar nicht auf, auch wenn sie in der Weltgeschichte Cato Hirtius und Pansa heißen und in seinem Stücke ein halb Dutzend Verse zu sprechen haben. ^ Von weit größerer Verschiedenheit aber ist der Gang der Handlung in den beiden Dramen. Paul Lindau hat den Nachweis versucht, eine gewisse Uebereinstimmung im sacrarium der ersten drei Akte bei Shakespeare und Kruse nachzuweisen. Und soweit vielleicht mit Glück, als in beiden Dramen der erste Act die Ex- Position, der zweite die Verschwörung, der dritte die Ermordung enthält. Allein diese Gleichartigkeit der dramatischen Entwickelung in den ersten drei Akten liegt in der Natur des gleichen Stoffes. Jeder Dichter muß dieses Drama beginnen lassen mit dem Versuch des Cassius, den Brutus in die Verschwörung hineinzuziehen, und muß es enden lassen mit dem Unter¬ gang der beiden letzten Römer bei Philippi. Dieser Zwang der Com- Position sowohl wie der zeitlichen Grenzen des Stückes liegt im Stoff. Jeder Dichter von natürlichem Gefühl muß sich diesem Zwange fügen; er wird sich dabei so frei wissen von einer sklavischen Nachahmung des Shakespeare, wie der Vogel, der sein Lied singt, von den Traditionen seiner Altvordern. Ja, was Kruse anlangt, so ist bei ihm die Gliederung der ersten drei Acte in Exposition, Verschwörung, Ermordung viel strenger und reiner durchgeführt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/251>, abgerufen am 06.02.2025.