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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Reichs suchte. Diese Freundschaft ist ihm ehrlich zu Theil geworden. Oester¬
reich datirt von da ab die innere Beruhigung seiner Völker, die gleichmäßige
Fortbildung seiner Verfassungsverhältnisse und eine gesicherte und machtvolle
Stellung nach Außen. Denn Deutschland nahm es nun auf sich, die aus
dem Krimkrieg herstammende Spannung zwischen Wien und Petersburg zu
lösen, es vermittelte einen moäus vivenäi im Orient, der den Kaiserstaat vor
einem einseitigen russischen Vorgehen sicherte und der Agitation der slavischen
Stämme den Rückhalt entzog. Erst jetzt begann eine Consolidirung der viel¬
geprüften, in einigen Jahrzehnten durch ein Dutzend von Verfassungsexperi¬
menten hindurchgehetzten Monarchie auf der Grundlage der Vorherrschaft der
Magyaren und Deutschen. Wäre es möglich, daß diese gesicherte Bahn wie¬
der verlassen würde, um auf abenteuerlichen Wegen über Abgründe hinweg
nach dem Luftgebilde der alten Hegemonie in Deutschland zu jagen? Sollte
die Kunst der Beichtväter und der militärischen Heißsporne ein so verhängniß-
volles Wagestück plausibel machen können? Sollte die Broschüre des Erzher¬
zogs Nepomuck Salvator, die gleichzeitig die gänzliche Unbrauchbarst der
österreichischen Festungsartillerie und das dringende Bedürfniß nach einem Krieg
gegen Deutschland bewies, bei ernsthafterer Männern einen Hintergrund
haben? Hätte das Bestreben der deutschen Politik nach einer Verständigung
mit allen, ihrer Würde bewußten Staaten zu gemeinsamer Abwehr päpstlicher
Uebergriffe eine Abneigung gerade da geweckt, wo man den Schimpf einer
Nichtigkeitserklärung des Staatsgrundgesetzes hatte erfahren müssen? Die con-
fessionellen Gesetze werden im Mai ein Jahr alt; seit der Dreikaiserzusammen¬
kunft sind im kommenden September erst drei Jahre verflossen; wohin würde
ein Staat gerathen, der in so jähem Wechsel von einer den preußischen Mai¬
gesetzen verwandten Kirchenpolitik zum Papst, von der Allianz der beiden
stärksten Mächte zu Frankreich hinüberschwankte? Und was würden die Un¬
garn zu der Abschwenkung sagen, die von den ihnen feindlichen Anhängern
des militärischen Absolutismus oder des Föderalismus vollzogen werden
müßte? -- Für Oesterreich ist der Friede gleichbedeutend mit der fortschreiten¬
den innern Befestigung und Wohlfahrt; der Krieg -- mit dem Zerfall in
zwei oder drei Theile. Das Interesse, welches der Kaiserstaat an der Auf¬
rechterhaltung des Friedens und an einer stetigen Fortführung des jetzigen
Negierungssystems hat, liegt so klar vor Augen, daß der neulich von
Wien her nach Köln hin ertönende Warnruf über die Eventualität einer Be¬
drohung der Stellung Andrassy's von vielen nicht recht gewürdigt wurde.
Und doch -- woher kämen die weltgeschichtlichen Katastrophen, wenn die
Illusionen und Leidenschaften nicht zuweilen Herr über die Vernunft würden?

Kaiser Franz Joseph bewies viel Selbstüberwindung, als er zur Be¬
grüßung Victor Emanuel's die Stadt Venedig wählte; stärker konnte er kaum


Reichs suchte. Diese Freundschaft ist ihm ehrlich zu Theil geworden. Oester¬
reich datirt von da ab die innere Beruhigung seiner Völker, die gleichmäßige
Fortbildung seiner Verfassungsverhältnisse und eine gesicherte und machtvolle
Stellung nach Außen. Denn Deutschland nahm es nun auf sich, die aus
dem Krimkrieg herstammende Spannung zwischen Wien und Petersburg zu
lösen, es vermittelte einen moäus vivenäi im Orient, der den Kaiserstaat vor
einem einseitigen russischen Vorgehen sicherte und der Agitation der slavischen
Stämme den Rückhalt entzog. Erst jetzt begann eine Consolidirung der viel¬
geprüften, in einigen Jahrzehnten durch ein Dutzend von Verfassungsexperi¬
menten hindurchgehetzten Monarchie auf der Grundlage der Vorherrschaft der
Magyaren und Deutschen. Wäre es möglich, daß diese gesicherte Bahn wie¬
der verlassen würde, um auf abenteuerlichen Wegen über Abgründe hinweg
nach dem Luftgebilde der alten Hegemonie in Deutschland zu jagen? Sollte
die Kunst der Beichtväter und der militärischen Heißsporne ein so verhängniß-
volles Wagestück plausibel machen können? Sollte die Broschüre des Erzher¬
zogs Nepomuck Salvator, die gleichzeitig die gänzliche Unbrauchbarst der
österreichischen Festungsartillerie und das dringende Bedürfniß nach einem Krieg
gegen Deutschland bewies, bei ernsthafterer Männern einen Hintergrund
haben? Hätte das Bestreben der deutschen Politik nach einer Verständigung
mit allen, ihrer Würde bewußten Staaten zu gemeinsamer Abwehr päpstlicher
Uebergriffe eine Abneigung gerade da geweckt, wo man den Schimpf einer
Nichtigkeitserklärung des Staatsgrundgesetzes hatte erfahren müssen? Die con-
fessionellen Gesetze werden im Mai ein Jahr alt; seit der Dreikaiserzusammen¬
kunft sind im kommenden September erst drei Jahre verflossen; wohin würde
ein Staat gerathen, der in so jähem Wechsel von einer den preußischen Mai¬
gesetzen verwandten Kirchenpolitik zum Papst, von der Allianz der beiden
stärksten Mächte zu Frankreich hinüberschwankte? Und was würden die Un¬
garn zu der Abschwenkung sagen, die von den ihnen feindlichen Anhängern
des militärischen Absolutismus oder des Föderalismus vollzogen werden
müßte? — Für Oesterreich ist der Friede gleichbedeutend mit der fortschreiten¬
den innern Befestigung und Wohlfahrt; der Krieg — mit dem Zerfall in
zwei oder drei Theile. Das Interesse, welches der Kaiserstaat an der Auf¬
rechterhaltung des Friedens und an einer stetigen Fortführung des jetzigen
Negierungssystems hat, liegt so klar vor Augen, daß der neulich von
Wien her nach Köln hin ertönende Warnruf über die Eventualität einer Be¬
drohung der Stellung Andrassy's von vielen nicht recht gewürdigt wurde.
Und doch — woher kämen die weltgeschichtlichen Katastrophen, wenn die
Illusionen und Leidenschaften nicht zuweilen Herr über die Vernunft würden?

Kaiser Franz Joseph bewies viel Selbstüberwindung, als er zur Be¬
grüßung Victor Emanuel's die Stadt Venedig wählte; stärker konnte er kaum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/179>, abgerufen am 23.07.2024.