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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Nadowitz von seiner Petersburger Mission zurückgekehrt, unser Militärbevoll¬
mächtigter am russischen Hof, General von Werber, weilte vor Kurzem in Berlin,
Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung seines Kanzlers
beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in
Vertretung seines Kaiserlichen Baders nach Italien, sondern als einfacher
Tourist im strengen Jncognito. Das Publikum erklärt sich diese Vorgänge
aus politischen Motiven. Es versteht nicht, wie die Reise des Kaisers vor
Ostern trotz der Aerzte beschlossen und nach Ostern bei steigendem Wohlbe¬
finden Sr. Majestät auf ihr Andringen aufgegeben werden konnte. Sollte
es hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem Charakter der
kronprinzlichen Reise. Warum ist auf die officielle Begegnung des Deutschen
Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalienischen Stadt
auf einmal Verzicht geleistet? Es müssen doch Zwischenfälle vorgekommen
sein, die,es für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den bis vor kurzem
beabsichtigten Plan fallen zu lassen. Als im Sommer 1873 nach dem Sturze
von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Befreiung
des "Gefangenen im Vatican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach
dem deutschen Bundesgenossen den König Victor Emanuel bis nach Berlin.
Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt
bereits etwas moderirt zu haben. Der Bewohner des Vatican hatte an sich
zu keiner Zeit etwas Abschreckendes für den König von Italien. Die Ent¬
fremdung zwischen König und Papst war nie so schlimm, wie man aus ge¬
legentlichen Wuthausbrüchen der Curie schließen zu sollen vermeinte. Pius IX.
hatte stets die "Vaterliebe" für den Fürsten, zu dessen Ahnen "Heilige" ge¬
hören, wie es in der jüngsten Anrede des Papstes an Hugo Windischgrätz
lautet, "im Schrein des Herzens". Doch nun blieb diese "Vaterliebe" nicht ein¬
mal ohne Eindruck auf den einen und andern Minister des noch niemals
ganz aufgegebenen Königs, und der eine oder andre Epigone Machiavell's
mag sich überschlagen haben, wieviel die Bismarck'schen Daumschrauben dazu
beitrügen, um den Papst für ein gottseliges Italien kirre zu machen. Da
wäre es erklärlich, daß dem Kaiser Wilhelm der Appetit zum Reisen verging.
Doch -- lassen wir die Conjecturen: es ist unzweifelhaft, daß das Gutachten
der Aerzte hinreicht, um das Aufgeben der Reise, die nur Lieblingsgedanke
des Kaisers geworden war, völlig zu erklären.

Eine so schwache Negierung, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn
sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt. Die
französischen Rüstungen gelten zur Zeit nur uns, und nach alter savoyischer
Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend ausgebeutet
ist. Taxiren wir die Stimmungen -- nicht des Volks, aber der regierenden
Kreise Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Nüstun-


Nadowitz von seiner Petersburger Mission zurückgekehrt, unser Militärbevoll¬
mächtigter am russischen Hof, General von Werber, weilte vor Kurzem in Berlin,
Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung seines Kanzlers
beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in
Vertretung seines Kaiserlichen Baders nach Italien, sondern als einfacher
Tourist im strengen Jncognito. Das Publikum erklärt sich diese Vorgänge
aus politischen Motiven. Es versteht nicht, wie die Reise des Kaisers vor
Ostern trotz der Aerzte beschlossen und nach Ostern bei steigendem Wohlbe¬
finden Sr. Majestät auf ihr Andringen aufgegeben werden konnte. Sollte
es hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem Charakter der
kronprinzlichen Reise. Warum ist auf die officielle Begegnung des Deutschen
Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalienischen Stadt
auf einmal Verzicht geleistet? Es müssen doch Zwischenfälle vorgekommen
sein, die,es für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den bis vor kurzem
beabsichtigten Plan fallen zu lassen. Als im Sommer 1873 nach dem Sturze
von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Befreiung
des „Gefangenen im Vatican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach
dem deutschen Bundesgenossen den König Victor Emanuel bis nach Berlin.
Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt
bereits etwas moderirt zu haben. Der Bewohner des Vatican hatte an sich
zu keiner Zeit etwas Abschreckendes für den König von Italien. Die Ent¬
fremdung zwischen König und Papst war nie so schlimm, wie man aus ge¬
legentlichen Wuthausbrüchen der Curie schließen zu sollen vermeinte. Pius IX.
hatte stets die „Vaterliebe" für den Fürsten, zu dessen Ahnen „Heilige" ge¬
hören, wie es in der jüngsten Anrede des Papstes an Hugo Windischgrätz
lautet, „im Schrein des Herzens". Doch nun blieb diese „Vaterliebe" nicht ein¬
mal ohne Eindruck auf den einen und andern Minister des noch niemals
ganz aufgegebenen Königs, und der eine oder andre Epigone Machiavell's
mag sich überschlagen haben, wieviel die Bismarck'schen Daumschrauben dazu
beitrügen, um den Papst für ein gottseliges Italien kirre zu machen. Da
wäre es erklärlich, daß dem Kaiser Wilhelm der Appetit zum Reisen verging.
Doch — lassen wir die Conjecturen: es ist unzweifelhaft, daß das Gutachten
der Aerzte hinreicht, um das Aufgeben der Reise, die nur Lieblingsgedanke
des Kaisers geworden war, völlig zu erklären.

Eine so schwache Negierung, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn
sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt. Die
französischen Rüstungen gelten zur Zeit nur uns, und nach alter savoyischer
Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend ausgebeutet
ist. Taxiren wir die Stimmungen — nicht des Volks, aber der regierenden
Kreise Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Nüstun-


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[0174] Nadowitz von seiner Petersburger Mission zurückgekehrt, unser Militärbevoll¬ mächtigter am russischen Hof, General von Werber, weilte vor Kurzem in Berlin, Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung seines Kanzlers beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in Vertretung seines Kaiserlichen Baders nach Italien, sondern als einfacher Tourist im strengen Jncognito. Das Publikum erklärt sich diese Vorgänge aus politischen Motiven. Es versteht nicht, wie die Reise des Kaisers vor Ostern trotz der Aerzte beschlossen und nach Ostern bei steigendem Wohlbe¬ finden Sr. Majestät auf ihr Andringen aufgegeben werden konnte. Sollte es hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem Charakter der kronprinzlichen Reise. Warum ist auf die officielle Begegnung des Deutschen Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalienischen Stadt auf einmal Verzicht geleistet? Es müssen doch Zwischenfälle vorgekommen sein, die,es für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den bis vor kurzem beabsichtigten Plan fallen zu lassen. Als im Sommer 1873 nach dem Sturze von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Befreiung des „Gefangenen im Vatican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach dem deutschen Bundesgenossen den König Victor Emanuel bis nach Berlin. Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt bereits etwas moderirt zu haben. Der Bewohner des Vatican hatte an sich zu keiner Zeit etwas Abschreckendes für den König von Italien. Die Ent¬ fremdung zwischen König und Papst war nie so schlimm, wie man aus ge¬ legentlichen Wuthausbrüchen der Curie schließen zu sollen vermeinte. Pius IX. hatte stets die „Vaterliebe" für den Fürsten, zu dessen Ahnen „Heilige" ge¬ hören, wie es in der jüngsten Anrede des Papstes an Hugo Windischgrätz lautet, „im Schrein des Herzens". Doch nun blieb diese „Vaterliebe" nicht ein¬ mal ohne Eindruck auf den einen und andern Minister des noch niemals ganz aufgegebenen Königs, und der eine oder andre Epigone Machiavell's mag sich überschlagen haben, wieviel die Bismarck'schen Daumschrauben dazu beitrügen, um den Papst für ein gottseliges Italien kirre zu machen. Da wäre es erklärlich, daß dem Kaiser Wilhelm der Appetit zum Reisen verging. Doch — lassen wir die Conjecturen: es ist unzweifelhaft, daß das Gutachten der Aerzte hinreicht, um das Aufgeben der Reise, die nur Lieblingsgedanke des Kaisers geworden war, völlig zu erklären. Eine so schwache Negierung, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt. Die französischen Rüstungen gelten zur Zeit nur uns, und nach alter savoyischer Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend ausgebeutet ist. Taxiren wir die Stimmungen — nicht des Volks, aber der regierenden Kreise Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Nüstun-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/174>, abgerufen am 23.07.2024.