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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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bei sich herumgetragen und in mündlicher wiederholter Erzählung an seine
Umgebung sie weiter ausgebildet, endlich im höheren Lebensalter zu Papier
gebracht hat. Widersprüche unter diesen verschiedengearteten Quellen können
nicht ausbleiben: der Memoirenschreiber hält, selbstverständlich im besten Glau¬
ben, seine eigene Erinnerung für die richtige und maßgebende Autorität und
schreitet kühn über alle Einwendungen aus anderer Quelle hinweg. Die histo¬
rische Kritik dagegen wird, unbeschadet einer genauen Untersuchung und Ab¬
wägung in jedem einzelnen Falle, im allgemeinen die gleichzeitige unmittelbare,
mit Beweisstücken ausgerüstete Ueberlieferung vor der späteren auf das Ge¬
dächtniß eines Einzelnen allein gestützten Erinnerung eines Zeitgenossen bevor¬
zugen ; sie wird ganz besonders dann mit begründetem Mißtrauen gegen der¬
artige Erinnerungen sich verhalten, wenn sie eine persönliche Leidenschaft und
Gereiztheit des Erzählers gegen die historischen Persönlichkeiten, um deren
Geschichte es sich handelt, bemerkt hat.

Aus welchen Motiven Schön's Abneigung gegen Stein entsprungen, in
welcher Weise ein Gegensatz der Charaktere und der Lebensanschauungen zwi¬
schen beiden Männern angenommen werden muß, -- dies zu erörtern behalten
wir uns bis dahin vor, daß noch weiteres Material aus den Papieren Schön's
gedruckt sein wird. Schon in dem ersten Bande steht mancher Beitrag zu dieser
Frage; und die Correspondenzen von 1807--1813, die sonst bekannt gewor¬
den sind, würden wohl einzelne Erläuterungen hinzufügen können.

In der "Selbstbiographie" zieht uns besonders die Darstellung des Ent¬
wickelungsganges des jungen Schön an. Wenn auch die einzelnen Daten
schon durch Nase manu bekannt waren, so ist es immerhin ein nicht ge¬
wöhnlicher Genuß, die eigene Skizze Schön's zu studiren. Auch die literari¬
sche Gewandtheit, die geistreiche Diktion der Darstellung tritt gerade hier im
hellsten Lichte auf, ungestört und unbeeinträchtigt durch alles das, was in
anderen Theilen des Werkes unsere Empfindung stört und unsere Stimmung
beeinträchtigt.

Die äußere Ausstattung dieser Publikation ist eine außergewöhnlich reiche,
ja glänzende zu nennen. Die hierauf verwandte Mühe und Sorgfalt sticht
gewaltig ab gegen die Sorglosigkeit, mit der die eigentliche Arbeit des Heraus¬
gebers gethan, oder richtiger gesagt, nicht gethan ist. Möchten die weiteren
Bände, auf die wir wohl noch hoffen dürfen, in dieser Hinsicht ein anderes
Angesicht zeigen!


Maurenbrecher.


bei sich herumgetragen und in mündlicher wiederholter Erzählung an seine
Umgebung sie weiter ausgebildet, endlich im höheren Lebensalter zu Papier
gebracht hat. Widersprüche unter diesen verschiedengearteten Quellen können
nicht ausbleiben: der Memoirenschreiber hält, selbstverständlich im besten Glau¬
ben, seine eigene Erinnerung für die richtige und maßgebende Autorität und
schreitet kühn über alle Einwendungen aus anderer Quelle hinweg. Die histo¬
rische Kritik dagegen wird, unbeschadet einer genauen Untersuchung und Ab¬
wägung in jedem einzelnen Falle, im allgemeinen die gleichzeitige unmittelbare,
mit Beweisstücken ausgerüstete Ueberlieferung vor der späteren auf das Ge¬
dächtniß eines Einzelnen allein gestützten Erinnerung eines Zeitgenossen bevor¬
zugen ; sie wird ganz besonders dann mit begründetem Mißtrauen gegen der¬
artige Erinnerungen sich verhalten, wenn sie eine persönliche Leidenschaft und
Gereiztheit des Erzählers gegen die historischen Persönlichkeiten, um deren
Geschichte es sich handelt, bemerkt hat.

Aus welchen Motiven Schön's Abneigung gegen Stein entsprungen, in
welcher Weise ein Gegensatz der Charaktere und der Lebensanschauungen zwi¬
schen beiden Männern angenommen werden muß, — dies zu erörtern behalten
wir uns bis dahin vor, daß noch weiteres Material aus den Papieren Schön's
gedruckt sein wird. Schon in dem ersten Bande steht mancher Beitrag zu dieser
Frage; und die Correspondenzen von 1807—1813, die sonst bekannt gewor¬
den sind, würden wohl einzelne Erläuterungen hinzufügen können.

In der »Selbstbiographie" zieht uns besonders die Darstellung des Ent¬
wickelungsganges des jungen Schön an. Wenn auch die einzelnen Daten
schon durch Nase manu bekannt waren, so ist es immerhin ein nicht ge¬
wöhnlicher Genuß, die eigene Skizze Schön's zu studiren. Auch die literari¬
sche Gewandtheit, die geistreiche Diktion der Darstellung tritt gerade hier im
hellsten Lichte auf, ungestört und unbeeinträchtigt durch alles das, was in
anderen Theilen des Werkes unsere Empfindung stört und unsere Stimmung
beeinträchtigt.

Die äußere Ausstattung dieser Publikation ist eine außergewöhnlich reiche,
ja glänzende zu nennen. Die hierauf verwandte Mühe und Sorgfalt sticht
gewaltig ab gegen die Sorglosigkeit, mit der die eigentliche Arbeit des Heraus¬
gebers gethan, oder richtiger gesagt, nicht gethan ist. Möchten die weiteren
Bände, auf die wir wohl noch hoffen dürfen, in dieser Hinsicht ein anderes
Angesicht zeigen!


Maurenbrecher.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/172>, abgerufen am 23.07.2024.