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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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dem schon wiederholt; und ganz dieselben Erfahrungen lassen sich für die mei¬
sten Disciplinen nachweisen.

Im Allgemeinen dürfte vor Kurzem in den meisten Fächern eine tiefe
Ebbe vorhanden gewesen sein. Wer aber nicht absichtlich blind sein will,
kann auf den meisten Gebieten heute schon die beginnende Rückkehr der Fluth
gewahr werden. Und jene momentane Ebbe hatte doch eine ganze Reihe von
Ursachen gehabt, von denen wir zum Trost unserer Leser wenigstens einige
hier nennen wollen.

Die materielle Lage der Professoren war im letzten Jahrzehnt gradezu
eine unerträgliche geworden. Nur der mit Glücksgütern gesegnete konnte ver¬
ständiger Weise den Entschluß fassen, sich der akademischen Laufbahn zu wid¬
men, d. h. also Privatdozent zu werden. Vor allem in Preußen war das
Budget der Universitäten lange Zeit auf das engste zusammengepreßt; manche
vorhandenen Bedürfnisse waren künstlich zurückgedrängt und unbefriedigt ge¬
blieben. Nun begann 1870 und 1871 eine Periode, in der mehr für die
Zwecke des höheren Unterrichts und der Wissenschaften aufgewendet werden
konnte. Viele längst gefühlte Lücken in den Lehrkörpern wurden jetzt ausge¬
füllt: eine Menge Privatdozenten würden jetzt in kurzer Zeit angestellt.
Der Verbrauch von Privatdozenten zu Professoren wurde für die nächste Zeit
ein stärkerer, als daß der damalige Bestand und der hergebrachte Nachwuchs
Plötzlich ihn leisten konnte: in einzelnen Fällen entstanden Verlegenheiten für
Fakultäten und Regierungen. Neben den Universitäten sind technische Hoch¬
schulen erwachsen, welche die disponibel" Lehrkräfte in vielen Fächern für sich
in Beschlag genommen und den Universitäten entzogen haben. Dazu kam
die Neugründung von Straßburg, das in größerem Style sofort angelegt
wurde und viele Kräfte absorbirte. Viele Professoren geriethen in eine Art
von Wandersieber: hier und da stellte sich einmal ein Mangel heraus.

Wer über dem Treiben des Momentes nicht den Kopf verloren, mußte
sich sagen, daß dies nichts weiter als eine vorübergehende Unbequemlichkeit
sei, daß sehr bald das Gleichgewicht sich herstellen müsse. Vielfachen Forde¬
rungen nachgebend, schuf man neue Lehrstühle für Fächer, die bisher so gut
wie gar nicht an den Universitäten vertreten. Wir erinnern nur an die Ein¬
führung der englischen und französischen Philologie, an die Vermehrung der
nationalökonomischen Lehrstühle: kein Wunder, daß es in diesen Fächern
hier und da an verfügbaren und brauchbaren Dozenten mangelte. Und wenn
jetzt die preußische Regierung mit einem Schlage aus dem Nichts heraus
sechs neue geographische Professuren auf den Etat gesetzt hat, so ist das
nachherige Erstaunen jedenfalls sehr ungerechtfertigt, wenn demnächst sich
ein Rufen und Klagen über den Mangel an Dozenten der Geographie
erhebt!


dem schon wiederholt; und ganz dieselben Erfahrungen lassen sich für die mei¬
sten Disciplinen nachweisen.

Im Allgemeinen dürfte vor Kurzem in den meisten Fächern eine tiefe
Ebbe vorhanden gewesen sein. Wer aber nicht absichtlich blind sein will,
kann auf den meisten Gebieten heute schon die beginnende Rückkehr der Fluth
gewahr werden. Und jene momentane Ebbe hatte doch eine ganze Reihe von
Ursachen gehabt, von denen wir zum Trost unserer Leser wenigstens einige
hier nennen wollen.

Die materielle Lage der Professoren war im letzten Jahrzehnt gradezu
eine unerträgliche geworden. Nur der mit Glücksgütern gesegnete konnte ver¬
ständiger Weise den Entschluß fassen, sich der akademischen Laufbahn zu wid¬
men, d. h. also Privatdozent zu werden. Vor allem in Preußen war das
Budget der Universitäten lange Zeit auf das engste zusammengepreßt; manche
vorhandenen Bedürfnisse waren künstlich zurückgedrängt und unbefriedigt ge¬
blieben. Nun begann 1870 und 1871 eine Periode, in der mehr für die
Zwecke des höheren Unterrichts und der Wissenschaften aufgewendet werden
konnte. Viele längst gefühlte Lücken in den Lehrkörpern wurden jetzt ausge¬
füllt: eine Menge Privatdozenten würden jetzt in kurzer Zeit angestellt.
Der Verbrauch von Privatdozenten zu Professoren wurde für die nächste Zeit
ein stärkerer, als daß der damalige Bestand und der hergebrachte Nachwuchs
Plötzlich ihn leisten konnte: in einzelnen Fällen entstanden Verlegenheiten für
Fakultäten und Regierungen. Neben den Universitäten sind technische Hoch¬
schulen erwachsen, welche die disponibel» Lehrkräfte in vielen Fächern für sich
in Beschlag genommen und den Universitäten entzogen haben. Dazu kam
die Neugründung von Straßburg, das in größerem Style sofort angelegt
wurde und viele Kräfte absorbirte. Viele Professoren geriethen in eine Art
von Wandersieber: hier und da stellte sich einmal ein Mangel heraus.

Wer über dem Treiben des Momentes nicht den Kopf verloren, mußte
sich sagen, daß dies nichts weiter als eine vorübergehende Unbequemlichkeit
sei, daß sehr bald das Gleichgewicht sich herstellen müsse. Vielfachen Forde¬
rungen nachgebend, schuf man neue Lehrstühle für Fächer, die bisher so gut
wie gar nicht an den Universitäten vertreten. Wir erinnern nur an die Ein¬
führung der englischen und französischen Philologie, an die Vermehrung der
nationalökonomischen Lehrstühle: kein Wunder, daß es in diesen Fächern
hier und da an verfügbaren und brauchbaren Dozenten mangelte. Und wenn
jetzt die preußische Regierung mit einem Schlage aus dem Nichts heraus
sechs neue geographische Professuren auf den Etat gesetzt hat, so ist das
nachherige Erstaunen jedenfalls sehr ungerechtfertigt, wenn demnächst sich
ein Rufen und Klagen über den Mangel an Dozenten der Geographie
erhebt!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/131>, abgerufen am 06.02.2025.