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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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ein so leidenschaftlicher Hasser der Kirche, am Ende sich im Streite wider die
Kirche zu weit würde fortreißen lassen; und es möchte zuletzt vielleicht noch
die andere Befürchtung in uns erwachen, daß er durch sein Verhältniß zu Cava
eine Schuld auf sich laden könnte, die ihn weiterhin zu Grunde richten würde.
Jenem Gedanken ist im Drama schon im Anfang Ausdruck geliehen; von dieser
zweiten Besorgniß sind selbst Roderich's Freunde erfüllt: in ergreifend rühren¬
der Scene warnt ihn die Schwester, warnt ihn der Freund; aber die Liebe zu
Cava ist stärker als alles andere: er ist entschlossen, sie als die Seine zu behaupten.
Sindred sucht ihn auf, ihm selbst zu diesem Zwecke die Hülfe der Kirche zu
bieten; er macht sich anheischig, ihm die geliebte Frau selbst zu verschaffen, um den
Preis, daß Roderich dem Kirchenkampf entsagen wolle. Aber solchen Com-
promiß weist der König entschieden zurück; indem Roderich ohne Wissen des
Erzbischofes Zeugen ihrer Unterredung aufstellt, hat er mit listigen Strata-
gema zum zweiten Male dem Gegner eine Niederlage vor dem Volke bereitet.
Eine, noch heftigere Phase muß damit für den Krieg beginnen: indem Sindred
die Unmöglichkeit eines Ausgleiches mit Roderich erkennt, muß sein Sinn
und sein Thun nach anderer Seite sich wenden.

Mittlerweile war der Angriff der Mauren Spanien näher gekommen.
Die letzten gothischen Plätze in Nordafrika, Ceuta und Tanger, die Posten
Julian's und Tulga's waren durch Berrarh dieser Grafen in die Hand der
Mauren gefallen. Die Entdeckung dieses Hochverrathes ist es, welche Roderich
es ermöglicht, gegen den Willen des Vaters, ohne Bruch des Volksrechtes,
Cava's Hand für sich zu besitzen. sonnenklar und unbestritten war des Vaters
Recht, über die Tochter zu verfügen, verkündet und anerkannt; Julian hatte
gegen Roderich's Werbung um Cava protestirt; wollte Roderich dennoch sich
die Geliebte aneignen, -- er schien im Begriffe zu diesem Schritte zu sein,
-- dann hätte wirklich seine Leidenschaft ihn in eine Schuld verwickelt, der
Vorkämpfer des Staates wäre nicht rein geblieben. Bis hart an den Punkt
heran, in welchem Leser und Zuschauer das tragische Schuldmoment einzutre¬
ten erwarten, hat der Dichter diese Entwicklung geführt. An diesem Punkte
angelangt aber wendet er mit plötzlichem Rucke das Drama nach einer andern
Seite hin. Im Augenblicke, in welchem wir alle Roderich's Fehltritt erwar¬
ten, wird der Hochverrath Julian's entdeckt; dies ändert die ganze Lage: nun
mußte Roderich die Schuld von selbst erspart sein; denn der Hochverräther
Julian hatte alles Recht über die Tochter verwirkt; nun wurde Roderich selbst
als König derjenige, der Cava's Hand zu vergeben hat: er giebt sie natürlich
sich selbst.'

Wir haben in dieser Scene den Punkt erreicht, bei welchem begründete
Einwendungen gegen des Dichters Verfahren sich erheben müssen. Die Art.
mit der hier der schon vorbereitete Conflikt vermieden wird, ist eine gewalt-


Gmizbotcn U. 1875. 13

ein so leidenschaftlicher Hasser der Kirche, am Ende sich im Streite wider die
Kirche zu weit würde fortreißen lassen; und es möchte zuletzt vielleicht noch
die andere Befürchtung in uns erwachen, daß er durch sein Verhältniß zu Cava
eine Schuld auf sich laden könnte, die ihn weiterhin zu Grunde richten würde.
Jenem Gedanken ist im Drama schon im Anfang Ausdruck geliehen; von dieser
zweiten Besorgniß sind selbst Roderich's Freunde erfüllt: in ergreifend rühren¬
der Scene warnt ihn die Schwester, warnt ihn der Freund; aber die Liebe zu
Cava ist stärker als alles andere: er ist entschlossen, sie als die Seine zu behaupten.
Sindred sucht ihn auf, ihm selbst zu diesem Zwecke die Hülfe der Kirche zu
bieten; er macht sich anheischig, ihm die geliebte Frau selbst zu verschaffen, um den
Preis, daß Roderich dem Kirchenkampf entsagen wolle. Aber solchen Com-
promiß weist der König entschieden zurück; indem Roderich ohne Wissen des
Erzbischofes Zeugen ihrer Unterredung aufstellt, hat er mit listigen Strata-
gema zum zweiten Male dem Gegner eine Niederlage vor dem Volke bereitet.
Eine, noch heftigere Phase muß damit für den Krieg beginnen: indem Sindred
die Unmöglichkeit eines Ausgleiches mit Roderich erkennt, muß sein Sinn
und sein Thun nach anderer Seite sich wenden.

Mittlerweile war der Angriff der Mauren Spanien näher gekommen.
Die letzten gothischen Plätze in Nordafrika, Ceuta und Tanger, die Posten
Julian's und Tulga's waren durch Berrarh dieser Grafen in die Hand der
Mauren gefallen. Die Entdeckung dieses Hochverrathes ist es, welche Roderich
es ermöglicht, gegen den Willen des Vaters, ohne Bruch des Volksrechtes,
Cava's Hand für sich zu besitzen. sonnenklar und unbestritten war des Vaters
Recht, über die Tochter zu verfügen, verkündet und anerkannt; Julian hatte
gegen Roderich's Werbung um Cava protestirt; wollte Roderich dennoch sich
die Geliebte aneignen, — er schien im Begriffe zu diesem Schritte zu sein,
— dann hätte wirklich seine Leidenschaft ihn in eine Schuld verwickelt, der
Vorkämpfer des Staates wäre nicht rein geblieben. Bis hart an den Punkt
heran, in welchem Leser und Zuschauer das tragische Schuldmoment einzutre¬
ten erwarten, hat der Dichter diese Entwicklung geführt. An diesem Punkte
angelangt aber wendet er mit plötzlichem Rucke das Drama nach einer andern
Seite hin. Im Augenblicke, in welchem wir alle Roderich's Fehltritt erwar¬
ten, wird der Hochverrath Julian's entdeckt; dies ändert die ganze Lage: nun
mußte Roderich die Schuld von selbst erspart sein; denn der Hochverräther
Julian hatte alles Recht über die Tochter verwirkt; nun wurde Roderich selbst
als König derjenige, der Cava's Hand zu vergeben hat: er giebt sie natürlich
sich selbst.'

Wir haben in dieser Scene den Punkt erreicht, bei welchem begründete
Einwendungen gegen des Dichters Verfahren sich erheben müssen. Die Art.
mit der hier der schon vorbereitete Conflikt vermieden wird, ist eine gewalt-


Gmizbotcn U. 1875. 13
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/101>, abgerufen am 06.02.2025.