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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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dessen langjähriger Oberbürgermeister von Sick war, dieser vom mercantilen
wie vom strategischen Standpunkt gleich wichtigen Linie entgegen. Der Bezirk
mochte aber erwägen, daß von Sick, wollte er einmal Abgeordneter werden,
mit Hülfe der von uns früher geschilderten Eisenbahnpolitik überall gewählt
werden würde, und da schien es doch besser, das Prävenire zu spielen.
Warum aber Herr v. Sick gerade im jetzigen Augenblick um jeden Preis ge¬
wählt werden wollte, haben wir nachher zu zeigen.

In dem zweiten Bezirk Canstadt standen sich ein Beamter und ein Kauf¬
mann gegenüber, beide ursprünglich der nationalen Richtung angehörtg. Da
es aber bei unsern zerfahrenen Parteizuständen nicht gelang, eine Einigung
über die Personen herbeizuführen, so entstand ein unerquicklicher Wahlkampf,
wobei, wie es in Württemberg neuestens immer der Fall ist, die ultramontane
und die nachgerade ganz gesinnungslose Volkspartei, indem sie sich im ge¬
gebenen Fall auf die Seite des Kaufmanns stellten, dem Kampf schließlich
noch einen politischen Charakter verschafften, aber dadurch auch die Niederlage
ihres Candidaten herbeiführten, da nachgerade in unseren protestantischen
Landestheilen diejenige Partei regelmäßig unterliegt, auf deren Seite sich die
Clerikalen stellen.

Interessant war dagegen wiederum der Wahlkampf in Tübingen. In
dieser Stadt, welche kraft Privilegs ohne Landbezirk einen Abgeordneten für
sich zu wählen hat, war die nationale Partei in den letzten Jahren immer in
bedeutender Minderheit, wenn es ihr nicht etwa behagte, statt eines energischen
politischen Charakters einen dem Parteikampf fernstehenden oder politisch¬
gänzlich verschwommenen Candidaten aufzustellen. Die Mehrheit in der Stadt
Tübingen besteht nämlich zum größten Theil aus einer dem Weingärtnerstand
angehörigen rein ländlichen, aber mehr vom Taglohn als von der Bewirth¬
schaftung des eigenen kleinen Grundbesitzes lebenden Arbeiterbevölkerung, welche
seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts sich der demagogischen Bearbei¬
tung ganz besonders zugänglich erwiesen hat. Die Professoren Schäffle, Brieg,
Mantry, Fricker u. A., welche unter dem Minister Golther zur Bekämpfung
der national-Gesinnten und des deutschen Professorenthums an die Tübinger
Universität gezogen worden waren, hatten denn auch seit 1866 im Bund mit
einzelnen Mitgliedern der katholischen Facultät und dem aus Tübingen stam¬
menden Beobachtersredacteur Carl Mayer und ähnlichen Elementen mit allen
Mitteln demagogischer Redekunst jene Klasse der Wähler gegen Alles, was
vom Norden kam, (Ihre Landsleute natürlich nicht ausgenommen!) gründlich
zu verhetzen gewußt, was ihnen schon durch die sprachlichen Hilfsmittel, zumal
wenn diese sich in dem breiten oberschwäbischen oder allgäuer Dialect mit
obligatem Druck der schwieligen Hände äußerten, trefflich gelang, während den
Norddeutschen, selbst wenn sie es wagten, sich einer rohen fanatisirten Claque


dessen langjähriger Oberbürgermeister von Sick war, dieser vom mercantilen
wie vom strategischen Standpunkt gleich wichtigen Linie entgegen. Der Bezirk
mochte aber erwägen, daß von Sick, wollte er einmal Abgeordneter werden,
mit Hülfe der von uns früher geschilderten Eisenbahnpolitik überall gewählt
werden würde, und da schien es doch besser, das Prävenire zu spielen.
Warum aber Herr v. Sick gerade im jetzigen Augenblick um jeden Preis ge¬
wählt werden wollte, haben wir nachher zu zeigen.

In dem zweiten Bezirk Canstadt standen sich ein Beamter und ein Kauf¬
mann gegenüber, beide ursprünglich der nationalen Richtung angehörtg. Da
es aber bei unsern zerfahrenen Parteizuständen nicht gelang, eine Einigung
über die Personen herbeizuführen, so entstand ein unerquicklicher Wahlkampf,
wobei, wie es in Württemberg neuestens immer der Fall ist, die ultramontane
und die nachgerade ganz gesinnungslose Volkspartei, indem sie sich im ge¬
gebenen Fall auf die Seite des Kaufmanns stellten, dem Kampf schließlich
noch einen politischen Charakter verschafften, aber dadurch auch die Niederlage
ihres Candidaten herbeiführten, da nachgerade in unseren protestantischen
Landestheilen diejenige Partei regelmäßig unterliegt, auf deren Seite sich die
Clerikalen stellen.

Interessant war dagegen wiederum der Wahlkampf in Tübingen. In
dieser Stadt, welche kraft Privilegs ohne Landbezirk einen Abgeordneten für
sich zu wählen hat, war die nationale Partei in den letzten Jahren immer in
bedeutender Minderheit, wenn es ihr nicht etwa behagte, statt eines energischen
politischen Charakters einen dem Parteikampf fernstehenden oder politisch¬
gänzlich verschwommenen Candidaten aufzustellen. Die Mehrheit in der Stadt
Tübingen besteht nämlich zum größten Theil aus einer dem Weingärtnerstand
angehörigen rein ländlichen, aber mehr vom Taglohn als von der Bewirth¬
schaftung des eigenen kleinen Grundbesitzes lebenden Arbeiterbevölkerung, welche
seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts sich der demagogischen Bearbei¬
tung ganz besonders zugänglich erwiesen hat. Die Professoren Schäffle, Brieg,
Mantry, Fricker u. A., welche unter dem Minister Golther zur Bekämpfung
der national-Gesinnten und des deutschen Professorenthums an die Tübinger
Universität gezogen worden waren, hatten denn auch seit 1866 im Bund mit
einzelnen Mitgliedern der katholischen Facultät und dem aus Tübingen stam¬
menden Beobachtersredacteur Carl Mayer und ähnlichen Elementen mit allen
Mitteln demagogischer Redekunst jene Klasse der Wähler gegen Alles, was
vom Norden kam, (Ihre Landsleute natürlich nicht ausgenommen!) gründlich
zu verhetzen gewußt, was ihnen schon durch die sprachlichen Hilfsmittel, zumal
wenn diese sich in dem breiten oberschwäbischen oder allgäuer Dialect mit
obligatem Druck der schwieligen Hände äußerten, trefflich gelang, während den
Norddeutschen, selbst wenn sie es wagten, sich einer rohen fanatisirten Claque


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[0508] dessen langjähriger Oberbürgermeister von Sick war, dieser vom mercantilen wie vom strategischen Standpunkt gleich wichtigen Linie entgegen. Der Bezirk mochte aber erwägen, daß von Sick, wollte er einmal Abgeordneter werden, mit Hülfe der von uns früher geschilderten Eisenbahnpolitik überall gewählt werden würde, und da schien es doch besser, das Prävenire zu spielen. Warum aber Herr v. Sick gerade im jetzigen Augenblick um jeden Preis ge¬ wählt werden wollte, haben wir nachher zu zeigen. In dem zweiten Bezirk Canstadt standen sich ein Beamter und ein Kauf¬ mann gegenüber, beide ursprünglich der nationalen Richtung angehörtg. Da es aber bei unsern zerfahrenen Parteizuständen nicht gelang, eine Einigung über die Personen herbeizuführen, so entstand ein unerquicklicher Wahlkampf, wobei, wie es in Württemberg neuestens immer der Fall ist, die ultramontane und die nachgerade ganz gesinnungslose Volkspartei, indem sie sich im ge¬ gebenen Fall auf die Seite des Kaufmanns stellten, dem Kampf schließlich noch einen politischen Charakter verschafften, aber dadurch auch die Niederlage ihres Candidaten herbeiführten, da nachgerade in unseren protestantischen Landestheilen diejenige Partei regelmäßig unterliegt, auf deren Seite sich die Clerikalen stellen. Interessant war dagegen wiederum der Wahlkampf in Tübingen. In dieser Stadt, welche kraft Privilegs ohne Landbezirk einen Abgeordneten für sich zu wählen hat, war die nationale Partei in den letzten Jahren immer in bedeutender Minderheit, wenn es ihr nicht etwa behagte, statt eines energischen politischen Charakters einen dem Parteikampf fernstehenden oder politisch¬ gänzlich verschwommenen Candidaten aufzustellen. Die Mehrheit in der Stadt Tübingen besteht nämlich zum größten Theil aus einer dem Weingärtnerstand angehörigen rein ländlichen, aber mehr vom Taglohn als von der Bewirth¬ schaftung des eigenen kleinen Grundbesitzes lebenden Arbeiterbevölkerung, welche seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts sich der demagogischen Bearbei¬ tung ganz besonders zugänglich erwiesen hat. Die Professoren Schäffle, Brieg, Mantry, Fricker u. A., welche unter dem Minister Golther zur Bekämpfung der national-Gesinnten und des deutschen Professorenthums an die Tübinger Universität gezogen worden waren, hatten denn auch seit 1866 im Bund mit einzelnen Mitgliedern der katholischen Facultät und dem aus Tübingen stam¬ menden Beobachtersredacteur Carl Mayer und ähnlichen Elementen mit allen Mitteln demagogischer Redekunst jene Klasse der Wähler gegen Alles, was vom Norden kam, (Ihre Landsleute natürlich nicht ausgenommen!) gründlich zu verhetzen gewußt, was ihnen schon durch die sprachlichen Hilfsmittel, zumal wenn diese sich in dem breiten oberschwäbischen oder allgäuer Dialect mit obligatem Druck der schwieligen Hände äußerten, trefflich gelang, während den Norddeutschen, selbst wenn sie es wagten, sich einer rohen fanatisirten Claque

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/508>, abgerufen am 23.07.2024.