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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Nealisationswiderstand findet und deshalb eine größere Retardation erfährt
als die andre Seite."

Ferner genügt die natürliche Auslese nicht zur Erklärung solcher Formen,
welche zwar für die Gestalt der Individuen bedeutsam sind, aber physiologisch
für ihr Leben keinen Nutzen erkennen lassen. So lassen die systematisch wich¬
tigen morphologischen Verhältnisse der höheren Pflanzen in Blattstellung,
Blüthenbildung, Plastik oder Farbenzeichnung der Samenkörner keinen Vor¬
theil für die Chancen im Kampf ums Dasein wahrnehmen. Aber sie zeigen
einen Fortschritt vollkommenerer Organisation, und sind das Ergebniß eines
von innen heraus wirkenden Gestaltungstriebes, nicht der Einflüsse der Außen¬
welt. So folgt denn: "Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze
natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste
bei der Verwirklichung jener, nehmlich das BeHauen und Adaptiren der vom
Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vor¬
herbestimmten Steine verrichten muß. Diese Auslese im Kampf ums Dasein
für das im Wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwicklung des
organischen Reiches ausgeben, wäre nichts andres, als wenn ein Tagelöhner,
der beim Zurichten der Steine zum Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den
Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte. Der Kampf ums Dasein ist
ein technisches Vehikel der Realisation der Idee, ein Hilfsmechanismus für die
Ausführung des Schöpfungsplanes."

Betrachten wir nun die Variabilität näher, so finden wir, daß sie keines¬
wegs ins Unbestimmte, Grenzenlose geht, sondern sich um das Centrum eines
Typus innerhalb eines bestimmten Nahmens bewegt, an dessen Grenze auch
jeder künstliche Züchtungsproceß anlangt, sodaß die Stachelbeere nicht kürbis¬
groß, die Taube nicht gelb, die Orange nicht blau wird. Statt des Chaos
haben wir innerhalb jeder Art ein scharfgezeichnetes natürliches System
im Kleinen, das uns die reiche schöpferische Phantasie der Natur bewun¬
dern läßt.

Was nun die Vererbung der individuell erworbenen Eigenschaften be¬
trifft, so gesteht Darwin selber ein, daß sie zu viel Ausnahmen hat, um Gesetz
heißen zu können; kaum darf sie als Regel gelten. Eine innere Vererbungs"
tendenz und eine spontane Variabilität treten an die Stelle der nur äußerlich
und mechanisch wirkenden zufälligen Einflüsse.

Die morphologische Typenwandlung , wodurch ein Wesen aus einer Art
in die' andere tritt oder eine neue Species verwirklicht wird, verlangt also
das Auftreten und die Erhaltung einer höheren oder besser angepaßten Form auf
dem Wege der heterogenen Zeugung und der Vererbung. Die natürliche
Zuchtwahl unterstützt hierbei den inneren Gestaltungstrieb und ist dadurch
höchst wichtig im Haushalt der Natur, ähnlich wie eine Sperrklinke und


Nealisationswiderstand findet und deshalb eine größere Retardation erfährt
als die andre Seite."

Ferner genügt die natürliche Auslese nicht zur Erklärung solcher Formen,
welche zwar für die Gestalt der Individuen bedeutsam sind, aber physiologisch
für ihr Leben keinen Nutzen erkennen lassen. So lassen die systematisch wich¬
tigen morphologischen Verhältnisse der höheren Pflanzen in Blattstellung,
Blüthenbildung, Plastik oder Farbenzeichnung der Samenkörner keinen Vor¬
theil für die Chancen im Kampf ums Dasein wahrnehmen. Aber sie zeigen
einen Fortschritt vollkommenerer Organisation, und sind das Ergebniß eines
von innen heraus wirkenden Gestaltungstriebes, nicht der Einflüsse der Außen¬
welt. So folgt denn: „Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze
natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste
bei der Verwirklichung jener, nehmlich das BeHauen und Adaptiren der vom
Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vor¬
herbestimmten Steine verrichten muß. Diese Auslese im Kampf ums Dasein
für das im Wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwicklung des
organischen Reiches ausgeben, wäre nichts andres, als wenn ein Tagelöhner,
der beim Zurichten der Steine zum Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den
Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte. Der Kampf ums Dasein ist
ein technisches Vehikel der Realisation der Idee, ein Hilfsmechanismus für die
Ausführung des Schöpfungsplanes."

Betrachten wir nun die Variabilität näher, so finden wir, daß sie keines¬
wegs ins Unbestimmte, Grenzenlose geht, sondern sich um das Centrum eines
Typus innerhalb eines bestimmten Nahmens bewegt, an dessen Grenze auch
jeder künstliche Züchtungsproceß anlangt, sodaß die Stachelbeere nicht kürbis¬
groß, die Taube nicht gelb, die Orange nicht blau wird. Statt des Chaos
haben wir innerhalb jeder Art ein scharfgezeichnetes natürliches System
im Kleinen, das uns die reiche schöpferische Phantasie der Natur bewun¬
dern läßt.

Was nun die Vererbung der individuell erworbenen Eigenschaften be¬
trifft, so gesteht Darwin selber ein, daß sie zu viel Ausnahmen hat, um Gesetz
heißen zu können; kaum darf sie als Regel gelten. Eine innere Vererbungs«
tendenz und eine spontane Variabilität treten an die Stelle der nur äußerlich
und mechanisch wirkenden zufälligen Einflüsse.

Die morphologische Typenwandlung , wodurch ein Wesen aus einer Art
in die' andere tritt oder eine neue Species verwirklicht wird, verlangt also
das Auftreten und die Erhaltung einer höheren oder besser angepaßten Form auf
dem Wege der heterogenen Zeugung und der Vererbung. Die natürliche
Zuchtwahl unterstützt hierbei den inneren Gestaltungstrieb und ist dadurch
höchst wichtig im Haushalt der Natur, ähnlich wie eine Sperrklinke und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/460>, abgerufen am 23.07.2024.