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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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waltung und gerade England ist das classische Land für dieselbe; sie darf
aber nicht dahin aufgefaßt werden, daß Jeder, der aus irgend welchen zwei-
felhaften Verdiensten in irgend eine Volksvertretung gelangt ist. oder dazu
berufen wird, an der Selbstverwaltung mitzuwirken, nun auch gleich Alles
selbst am besten verstehen will. In England wird wenigstens das Selfgo-
vernement auch keineswegs so aufgefaßt, glücklicher Weise auch in Deutschland
nicht überall; das deutsche Volk ist so lange bevormundet worden, daß Viele
sich dieser für alles sorgenden väterlichen Fürsorge noch nicht entwöhnen kön¬
nen, oder aber, was ebenso schlimm oder noch schlimmer ist. gleich ins andere
Extrem verfallen und trotz aller wissenschaftlichen Autoritäten selbst alles am
besten wissen wollen. Außerdem könnte ja auch so oft durch durchgreifende
Verbesserungen der oder jener Freund und Nachbar in seinen Privatinteressen
beeinträchtigt werden.

Doch verzeihen Sie diese weite Abschweifung und mein Plädiren pro
domo; aber wenn wir Techniker selbst es nicht thun, wer soll für eine wür-
digere Stellung unseres Fachs eintreten? Und wenn ich gerade hier dazu
Gelegenheit nahm, so mag dies durch den Vergleich mit englischen Zustän¬
den wohl gerechtfertigt erscheinen. Doch nun zurück zu den Londoner Eisen¬
bahnen.

Auch die ältern Bahnhöfe Londons lagen bei ihrer Erbauung in den
30er und 40er Jahren an der Peripherie der damaligen Stadt, nur die von
Süden und Osten kommenden Linien drangen von Anfang an erstere bis mög¬
lichst nahe an die Themse, letztere bis an den Anfang der City vor. Selbst¬
verständlich war ein derartiges Vordringen nur dadurch möglich, daß die
Bahnen über oder unter den bestehenden städtischen Straßen weggeführt wurden;
da außerdem der Grund und Boden selbst in diesen ärmsten Gegenden der
englischen Metropole immer noch werthvoll genug war, um die Erbauung von
Brücken an Stelle der Dämme zweckmäßig erscheinen zu lassen, so entstanden
jene Meilen langen Viaducte, die das Häusermeer Londons durchschneiden und
bei allen spätern Anlagen stets wieder auftreten. So führen die Bahnen
innerhalb der Stadt an den Dächern der Häuser vorbei, aber niemals über
dieselben hinweg; an den Stellen, wo Häuser standen, haben dieselben natürlich
beseitigt werden müssen, aber sie treten jetzt auch wieder bis dicht an die
Viaducte heran und in allen verkehrsreichen Gegenden sind die Hohlräume
der Brückenanlagen als Läden, Ställe. Lagerräume. Werkstätten u. dergl. a.
verpachtet. Während diese Verpachtung wohl kaum bei den ältern Anlagen
beabsichtigt gewesen sein mag. so wird doch jetzt bei der Rentabilitätsberech¬
nung neuer Bahnanlagen sehr wesentlich darauf Rücksicht genommen; und
wir sehen daher auch^ daß neuere Bahnanlagen bis in die entlegensten Stadt-


waltung und gerade England ist das classische Land für dieselbe; sie darf
aber nicht dahin aufgefaßt werden, daß Jeder, der aus irgend welchen zwei-
felhaften Verdiensten in irgend eine Volksvertretung gelangt ist. oder dazu
berufen wird, an der Selbstverwaltung mitzuwirken, nun auch gleich Alles
selbst am besten verstehen will. In England wird wenigstens das Selfgo-
vernement auch keineswegs so aufgefaßt, glücklicher Weise auch in Deutschland
nicht überall; das deutsche Volk ist so lange bevormundet worden, daß Viele
sich dieser für alles sorgenden väterlichen Fürsorge noch nicht entwöhnen kön¬
nen, oder aber, was ebenso schlimm oder noch schlimmer ist. gleich ins andere
Extrem verfallen und trotz aller wissenschaftlichen Autoritäten selbst alles am
besten wissen wollen. Außerdem könnte ja auch so oft durch durchgreifende
Verbesserungen der oder jener Freund und Nachbar in seinen Privatinteressen
beeinträchtigt werden.

Doch verzeihen Sie diese weite Abschweifung und mein Plädiren pro
domo; aber wenn wir Techniker selbst es nicht thun, wer soll für eine wür-
digere Stellung unseres Fachs eintreten? Und wenn ich gerade hier dazu
Gelegenheit nahm, so mag dies durch den Vergleich mit englischen Zustän¬
den wohl gerechtfertigt erscheinen. Doch nun zurück zu den Londoner Eisen¬
bahnen.

Auch die ältern Bahnhöfe Londons lagen bei ihrer Erbauung in den
30er und 40er Jahren an der Peripherie der damaligen Stadt, nur die von
Süden und Osten kommenden Linien drangen von Anfang an erstere bis mög¬
lichst nahe an die Themse, letztere bis an den Anfang der City vor. Selbst¬
verständlich war ein derartiges Vordringen nur dadurch möglich, daß die
Bahnen über oder unter den bestehenden städtischen Straßen weggeführt wurden;
da außerdem der Grund und Boden selbst in diesen ärmsten Gegenden der
englischen Metropole immer noch werthvoll genug war, um die Erbauung von
Brücken an Stelle der Dämme zweckmäßig erscheinen zu lassen, so entstanden
jene Meilen langen Viaducte, die das Häusermeer Londons durchschneiden und
bei allen spätern Anlagen stets wieder auftreten. So führen die Bahnen
innerhalb der Stadt an den Dächern der Häuser vorbei, aber niemals über
dieselben hinweg; an den Stellen, wo Häuser standen, haben dieselben natürlich
beseitigt werden müssen, aber sie treten jetzt auch wieder bis dicht an die
Viaducte heran und in allen verkehrsreichen Gegenden sind die Hohlräume
der Brückenanlagen als Läden, Ställe. Lagerräume. Werkstätten u. dergl. a.
verpachtet. Während diese Verpachtung wohl kaum bei den ältern Anlagen
beabsichtigt gewesen sein mag. so wird doch jetzt bei der Rentabilitätsberech¬
nung neuer Bahnanlagen sehr wesentlich darauf Rücksicht genommen; und
wir sehen daher auch^ daß neuere Bahnanlagen bis in die entlegensten Stadt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/46>, abgerufen am 23.07.2024.