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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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die Individuen, welche durch Kraft und Form ihm am meisten gewachsen sind.
Zu dieser natürlichen Zuchtwahl gehört dreierlei: eine Mannigfaltigkeit von
Formen, also die Variabilität, durch welche die verschiedenen Individuen für
die Auslese hergestellt werden, und damit das Ergebniß der Auslese dauernd
sei, muß es durch Vererbung befestigt werden, und die vererbte Abweichung
muß in vielen Individuen wieder ein neues Niveau für Wiederholung der Vari¬
ation und Auslese bieten, sodaß die Wirkungen sich summiren, und wie in
einer Folge von Geschlechtern von der Gans zum Schwan, vom Esel zum
Pferd, vom affenartigen Thier zum Menschen kommen. Diesen drei Factoren
geht nun Hartmann im Einzelnen nach.

Die Auslese durch den Kampf ums Dasein beseitigt die schwachen, verkümmer¬
ten Wesen, sie ist wichtig, um die speciem rein zu halten und zu veredeln,
und wird zu einer Modification des Typus nur dann führen, wenn neue
Lebensbedingungen eintreten, für welche einige Individuen sich leichter anpassen
und damit im Kampf ums Dasein einen Vorsprung gewinnen. Und es ist
zu beachten, daß im entwickelten Organismus die Umbildung oder Verstär¬
kung eines Gliedes nur dann nützlich ist, wenn Hand in Hand mit ihr auch
andre verändert werden; wird der Zahn spitzer und schärfer oder breitkro-
niger, so setzt das auch die Verdauungswerkzeuge des Fleisch- oder Körner¬
fressers voraus; ja es fordert ebenso der tiefere Kelch der Blume den längeren
Saugrüssel des Insektes, das ihre Befruchtung vermittelt, indem es seine
Nahrung sucht; die Umwandlung der Honigbiene in die Hummel muß
einer ähnlichen in der Pflan zenwelt entsprechen. Und so bemerkt denn Hart¬
mann mit Recht, daß hier der Kampf ums Dasein durch ein Gesetz correla-
tiver Entwicklung unterstützt werden muß. "Könnte ein solches unter Igno-
rirung der in ihm zu Tage tretenden harmonischen Zweckmäßigkeit bei seiner
Wirksamkeit an verschiedenen Theilen desselben Individuums wenigstens noch
mit dem Schein der Möglichkeit im materialistischen Sinne gedeutet werden,
so ist bei der Vertheilung der correlativen Veränderungen an verschiedenen
speciem selbst die Möglichkeit dieses Gedankens ausgeschlossen. Indem die
ideelle Harmonie der Schöpfung in ihrer planmäßigen in einander greifenden
Entwicklung auf ganz getrennten Gebieten der Organisation hier zur Evidenz
gelangt, bestätigt sie rückwärts, daß das Correlationsgesetz auch in Bezug
auf die sympathischen Veränderungen an einem einzelnen Individuum in dem¬
selben Sinn zu verstehen ist, aber hiermit ist die unterstützende Mitwirkung
des Kampfes ums Dasein nicht ausgeschlossen. Sie wird vielmehr Platz
greisen, erstens zur Erhaltung jeder durch die correlattve Entwicklung er¬
reichten Stufe und zweitens zur Nachhilfe auf derjenigen Seite des Processes,
welche etwa durch die Configuration der äußeren Umstände einen stärkeren


die Individuen, welche durch Kraft und Form ihm am meisten gewachsen sind.
Zu dieser natürlichen Zuchtwahl gehört dreierlei: eine Mannigfaltigkeit von
Formen, also die Variabilität, durch welche die verschiedenen Individuen für
die Auslese hergestellt werden, und damit das Ergebniß der Auslese dauernd
sei, muß es durch Vererbung befestigt werden, und die vererbte Abweichung
muß in vielen Individuen wieder ein neues Niveau für Wiederholung der Vari¬
ation und Auslese bieten, sodaß die Wirkungen sich summiren, und wie in
einer Folge von Geschlechtern von der Gans zum Schwan, vom Esel zum
Pferd, vom affenartigen Thier zum Menschen kommen. Diesen drei Factoren
geht nun Hartmann im Einzelnen nach.

Die Auslese durch den Kampf ums Dasein beseitigt die schwachen, verkümmer¬
ten Wesen, sie ist wichtig, um die speciem rein zu halten und zu veredeln,
und wird zu einer Modification des Typus nur dann führen, wenn neue
Lebensbedingungen eintreten, für welche einige Individuen sich leichter anpassen
und damit im Kampf ums Dasein einen Vorsprung gewinnen. Und es ist
zu beachten, daß im entwickelten Organismus die Umbildung oder Verstär¬
kung eines Gliedes nur dann nützlich ist, wenn Hand in Hand mit ihr auch
andre verändert werden; wird der Zahn spitzer und schärfer oder breitkro-
niger, so setzt das auch die Verdauungswerkzeuge des Fleisch- oder Körner¬
fressers voraus; ja es fordert ebenso der tiefere Kelch der Blume den längeren
Saugrüssel des Insektes, das ihre Befruchtung vermittelt, indem es seine
Nahrung sucht; die Umwandlung der Honigbiene in die Hummel muß
einer ähnlichen in der Pflan zenwelt entsprechen. Und so bemerkt denn Hart¬
mann mit Recht, daß hier der Kampf ums Dasein durch ein Gesetz correla-
tiver Entwicklung unterstützt werden muß. „Könnte ein solches unter Igno-
rirung der in ihm zu Tage tretenden harmonischen Zweckmäßigkeit bei seiner
Wirksamkeit an verschiedenen Theilen desselben Individuums wenigstens noch
mit dem Schein der Möglichkeit im materialistischen Sinne gedeutet werden,
so ist bei der Vertheilung der correlativen Veränderungen an verschiedenen
speciem selbst die Möglichkeit dieses Gedankens ausgeschlossen. Indem die
ideelle Harmonie der Schöpfung in ihrer planmäßigen in einander greifenden
Entwicklung auf ganz getrennten Gebieten der Organisation hier zur Evidenz
gelangt, bestätigt sie rückwärts, daß das Correlationsgesetz auch in Bezug
auf die sympathischen Veränderungen an einem einzelnen Individuum in dem¬
selben Sinn zu verstehen ist, aber hiermit ist die unterstützende Mitwirkung
des Kampfes ums Dasein nicht ausgeschlossen. Sie wird vielmehr Platz
greisen, erstens zur Erhaltung jeder durch die correlattve Entwicklung er¬
reichten Stufe und zweitens zur Nachhilfe auf derjenigen Seite des Processes,
welche etwa durch die Configuration der äußeren Umstände einen stärkeren


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[0459] die Individuen, welche durch Kraft und Form ihm am meisten gewachsen sind. Zu dieser natürlichen Zuchtwahl gehört dreierlei: eine Mannigfaltigkeit von Formen, also die Variabilität, durch welche die verschiedenen Individuen für die Auslese hergestellt werden, und damit das Ergebniß der Auslese dauernd sei, muß es durch Vererbung befestigt werden, und die vererbte Abweichung muß in vielen Individuen wieder ein neues Niveau für Wiederholung der Vari¬ ation und Auslese bieten, sodaß die Wirkungen sich summiren, und wie in einer Folge von Geschlechtern von der Gans zum Schwan, vom Esel zum Pferd, vom affenartigen Thier zum Menschen kommen. Diesen drei Factoren geht nun Hartmann im Einzelnen nach. Die Auslese durch den Kampf ums Dasein beseitigt die schwachen, verkümmer¬ ten Wesen, sie ist wichtig, um die speciem rein zu halten und zu veredeln, und wird zu einer Modification des Typus nur dann führen, wenn neue Lebensbedingungen eintreten, für welche einige Individuen sich leichter anpassen und damit im Kampf ums Dasein einen Vorsprung gewinnen. Und es ist zu beachten, daß im entwickelten Organismus die Umbildung oder Verstär¬ kung eines Gliedes nur dann nützlich ist, wenn Hand in Hand mit ihr auch andre verändert werden; wird der Zahn spitzer und schärfer oder breitkro- niger, so setzt das auch die Verdauungswerkzeuge des Fleisch- oder Körner¬ fressers voraus; ja es fordert ebenso der tiefere Kelch der Blume den längeren Saugrüssel des Insektes, das ihre Befruchtung vermittelt, indem es seine Nahrung sucht; die Umwandlung der Honigbiene in die Hummel muß einer ähnlichen in der Pflan zenwelt entsprechen. Und so bemerkt denn Hart¬ mann mit Recht, daß hier der Kampf ums Dasein durch ein Gesetz correla- tiver Entwicklung unterstützt werden muß. „Könnte ein solches unter Igno- rirung der in ihm zu Tage tretenden harmonischen Zweckmäßigkeit bei seiner Wirksamkeit an verschiedenen Theilen desselben Individuums wenigstens noch mit dem Schein der Möglichkeit im materialistischen Sinne gedeutet werden, so ist bei der Vertheilung der correlativen Veränderungen an verschiedenen speciem selbst die Möglichkeit dieses Gedankens ausgeschlossen. Indem die ideelle Harmonie der Schöpfung in ihrer planmäßigen in einander greifenden Entwicklung auf ganz getrennten Gebieten der Organisation hier zur Evidenz gelangt, bestätigt sie rückwärts, daß das Correlationsgesetz auch in Bezug auf die sympathischen Veränderungen an einem einzelnen Individuum in dem¬ selben Sinn zu verstehen ist, aber hiermit ist die unterstützende Mitwirkung des Kampfes ums Dasein nicht ausgeschlossen. Sie wird vielmehr Platz greisen, erstens zur Erhaltung jeder durch die correlattve Entwicklung er¬ reichten Stufe und zweitens zur Nachhilfe auf derjenigen Seite des Processes, welche etwa durch die Configuration der äußeren Umstände einen stärkeren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/459>, abgerufen am 23.07.2024.