Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.doch mit der Naturwissenschaft die Gravitation, die Kraft der Anziehung und Ich sage mit andern Worten: Das All ist ein System von Kräften. Doch kehren wir zu Ulrici zurück. Er untersucht den Begriff des Orga- doch mit der Naturwissenschaft die Gravitation, die Kraft der Anziehung und Ich sage mit andern Worten: Das All ist ein System von Kräften. Doch kehren wir zu Ulrici zurück. Er untersucht den Begriff des Orga- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133213"/> <p xml:id="ID_1576" prev="#ID_1575"> doch mit der Naturwissenschaft die Gravitation, die Kraft der Anziehung und<lb/> Abstoßung an, die er gleichfalls nicht sieht, sondern nur aus den sichtbaren<lb/> Wirkungen erschließt. Ist unser lebendiger Leib, sind unsre Handlungen nicht<lb/> auch sichtbare Wirkungen? Warum eine ausreichende Ursache für sie, eine<lb/> ihnen gewachsene Kraft nicht auch annehmen? Es handelte sich um den Begriff<lb/> von Kraft und Stoff. Ulrici weist stets an der Hand der Naturforschung<lb/> nach, daß die Kraft keineswegs ein Anhängsel oder eine Aeußerung der Materie<lb/> sondern die Materie nur das Phänomen der Kraft ist, nur von uns er¬<lb/> schlossen wird nach der Einwirkung von Kräften außer uns auf die Kraft<lb/> in uns. „Der Stoff, den wir alle annehmen, ist an sich nichts von der Kraft<lb/> Verschiedenes, sondern im Gegentheil nur die Aeußerung oder Erscheinung<lb/> einer Central- und Widerstandskraft, welche damit nothwendig gegeben ist,<lb/> daß die Kraft in der Natur nicht ein unterschiedloses allgemeines, sondern<lb/> nur in vielen unterschiedlichen, in Beziehung und Wechselwirkung zu einander<lb/> stehenden Kraftcentris wirkt, in denen mannigfache Kräfte von Einer Kraft<lb/> als Centralkraft in Einheit zusammengehalten, als Widerstandskraft in ihrem<lb/> Bestände erhalten werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1577"> Ich sage mit andern Worten: Das All ist ein System von Kräften.<lb/> Die Atome der Naturwissenschaft, die man ja nicht sehen und greifen kann,<lb/> sondern die man aus der Beobachtung der Wirklichkeit zu ihrer Erklärung<lb/> erschlossen hat, sind Kraftcentra, und ihre Selbsterhaltung ist es, vermöge<lb/> welcher sie allem einen Trägheitswiderstand entgegensetzen und sich in einer<lb/> bestimmten Sphäre ausdehnen und behaupten. Nach unveränderlichen Gesetzen<lb/> bestehend und wirkend bilden sie die unorganische Natur, und sind selber das<lb/> Material oder der Stoff für andre Kräfte, die sich in der Organisation der<lb/> Materie bethätigen, sich selber fühlen und erkennen und über der Natur ein<lb/> Reich des Geistes und der sittlichen Weltordnung aufbauen. Wir nennen sie<lb/> Seelen. Ihre Annahme wäre nur dann eine unnöthtge Hypothese, wenn die<lb/> Erscheinungen, wenn die thatsächliche Wirklichkeit der Organismen, des selbst¬<lb/> bewußten Willen, des Staats, der Kunst, der Religion und Wissenschaft sich<lb/> aus Druck und Stoß, räumlicher Bewegung und Stoffwechsel erklären ließen.<lb/> Leugnen lassen wir uns das Selbstgefühl, das Bewußtsein der Pflicht und<lb/> der Freiheit, die Unterscheidung von Wahr und Falsch, von Schön und Hä߬<lb/> lich einmal nicht, sie sind Thatsachen unsrer Erfahrung so gut wie die Sonne<lb/> am Himmel, wie der Fall eines Steines oder das Brausen des Windes. Von<lb/> all diesen Dingen wissen wir ja unmittelbar nichts, sondern unmittelbar sind<lb/> uns unsre Empfindungen des Lichts, des Schalls gewiß, und von ihnen, von<lb/> den Affectionen unsrer Sinnesorgane aus schließen wir nach dem Causalgesetz<lb/> ausginge außer uns, welche diese Empfindungen erregen helfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1578" next="#ID_1579"> Doch kehren wir zu Ulrici zurück. Er untersucht den Begriff des Orga-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0453]
doch mit der Naturwissenschaft die Gravitation, die Kraft der Anziehung und
Abstoßung an, die er gleichfalls nicht sieht, sondern nur aus den sichtbaren
Wirkungen erschließt. Ist unser lebendiger Leib, sind unsre Handlungen nicht
auch sichtbare Wirkungen? Warum eine ausreichende Ursache für sie, eine
ihnen gewachsene Kraft nicht auch annehmen? Es handelte sich um den Begriff
von Kraft und Stoff. Ulrici weist stets an der Hand der Naturforschung
nach, daß die Kraft keineswegs ein Anhängsel oder eine Aeußerung der Materie
sondern die Materie nur das Phänomen der Kraft ist, nur von uns er¬
schlossen wird nach der Einwirkung von Kräften außer uns auf die Kraft
in uns. „Der Stoff, den wir alle annehmen, ist an sich nichts von der Kraft
Verschiedenes, sondern im Gegentheil nur die Aeußerung oder Erscheinung
einer Central- und Widerstandskraft, welche damit nothwendig gegeben ist,
daß die Kraft in der Natur nicht ein unterschiedloses allgemeines, sondern
nur in vielen unterschiedlichen, in Beziehung und Wechselwirkung zu einander
stehenden Kraftcentris wirkt, in denen mannigfache Kräfte von Einer Kraft
als Centralkraft in Einheit zusammengehalten, als Widerstandskraft in ihrem
Bestände erhalten werden.
Ich sage mit andern Worten: Das All ist ein System von Kräften.
Die Atome der Naturwissenschaft, die man ja nicht sehen und greifen kann,
sondern die man aus der Beobachtung der Wirklichkeit zu ihrer Erklärung
erschlossen hat, sind Kraftcentra, und ihre Selbsterhaltung ist es, vermöge
welcher sie allem einen Trägheitswiderstand entgegensetzen und sich in einer
bestimmten Sphäre ausdehnen und behaupten. Nach unveränderlichen Gesetzen
bestehend und wirkend bilden sie die unorganische Natur, und sind selber das
Material oder der Stoff für andre Kräfte, die sich in der Organisation der
Materie bethätigen, sich selber fühlen und erkennen und über der Natur ein
Reich des Geistes und der sittlichen Weltordnung aufbauen. Wir nennen sie
Seelen. Ihre Annahme wäre nur dann eine unnöthtge Hypothese, wenn die
Erscheinungen, wenn die thatsächliche Wirklichkeit der Organismen, des selbst¬
bewußten Willen, des Staats, der Kunst, der Religion und Wissenschaft sich
aus Druck und Stoß, räumlicher Bewegung und Stoffwechsel erklären ließen.
Leugnen lassen wir uns das Selbstgefühl, das Bewußtsein der Pflicht und
der Freiheit, die Unterscheidung von Wahr und Falsch, von Schön und Hä߬
lich einmal nicht, sie sind Thatsachen unsrer Erfahrung so gut wie die Sonne
am Himmel, wie der Fall eines Steines oder das Brausen des Windes. Von
all diesen Dingen wissen wir ja unmittelbar nichts, sondern unmittelbar sind
uns unsre Empfindungen des Lichts, des Schalls gewiß, und von ihnen, von
den Affectionen unsrer Sinnesorgane aus schließen wir nach dem Causalgesetz
ausginge außer uns, welche diese Empfindungen erregen helfen.
Doch kehren wir zu Ulrici zurück. Er untersucht den Begriff des Orga-
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