Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wo sie sich bescheiden muß, da die materiellen Kräfte und ihre Gesetze allein
nicht mehr ausreichen. Wir kommen durch sorgfältige Beachtung der That¬
sachen und kritische Prüfung der Theorien zu dem Ergebniß, daß die Natur
wie die Naturwissenschaft den Forderungen des sittlich religiösen Bewußtseins
keineswegs widersprechen, sondern richtig verstanden in bestätigenden Einklang
mit ihnen stehen. Wir kommen zu einer Metaphysik, die von der Physik
selber gefordert und getragen wird.

Im ersten Bande von "Gott und Mensch" giebt uns Ulrici seine Psycho¬
logie. Es handelt sich um die Existenz und das Wesen der Seele, um ihre
Beziehung zur Natur nach unten, zu Gott, zu den Ideen des Guten, Wahren
und Schönen nach oben. Der Verfasser legt selber Gewicht auf seine Ver¬
handlungen mit den Materialisten von Confession und Profession, er fordert
sie von neuem zum offnen Kampf in der von ihm redigirten Zeitschrift her¬
aus; und da die Materialisten und blasirten oder nachplappernden Pessimisten
das große Wort in den Feuilletons führen und die Halbbildung beherrschen,
so wollen wir die bezüglichen Abschnitte kurz betrachten; sie führen uns zu¬
gleich zum Darwinismus, der eigentlich der Naturphilosophie angehört, die
Naturphilosophie unsrer Zeit in ihrem Mittelpunkt ausmacht.

Daß der Mensch nur das ist, was er ißt, daß die Gedanken und das
Selbstbewußtsein nur vom Gehirn ausgeschieden werden wie die Galle von
der Leber, nichts als eine Bewegung oder Umsetzung des Hirnstoffs seien,
wie Feuerbach, Bogt, Moleschott behaupten, das ist keineswegs eine durch Be¬
obachtung gewonnene, durch Experimente erhärtete Thatsache, sondern eine
Hypothese und Behauptung. Ulrici zeigt die Consequenzen derselben und
zeigt, daß sie alle Wissenschaft unmöglich mache. So wenig als von wahrem
oder unwahrem Urin könne man von falschen oder wahren Vorstellungen
reden, wenn die eine ebenso eine Secretion des Gehirns sei, wie der andere
eine der Nieren ist. Alle Gehirne sind dann durch denselben Naturmechanismus
hervorgebracht und fungiren mit derselben Nothwendigkeit, produciren Mei¬
nungen, Vorstellungen, Ueberzeugungen, die alle eine so gut wie die andere
unumgängliche Naturerscheinungen sind; es wäre widersinnig nach Wissenschaft
zu streben, weil jeder denkt was er denken muß, die Päpste den Shllabus,
die Materialisten den Atheismus. Rede man nicht von normalen und anor¬
malen Gehirnen! Nach welchem Kriterium will man das unterscheiden?
Unrechtlichkeit, Gewinnsucht, Genußbegierde sind verbreiteter als unverbrüch¬
liche Pflichttreue und opferwillige Tugend, der Dummen sind mehr als der
Weisen, und die einen haben so gut eine Befugniß wie die andern ihre Ge¬
hirne und Gehirnausscheidungen für normal zu erklären, da alle gleich zufällig
oder gleich nothwendig sind.

Der Materialist leugnet die Seele, weil er sie nicht sieht, aber er nimmt


wo sie sich bescheiden muß, da die materiellen Kräfte und ihre Gesetze allein
nicht mehr ausreichen. Wir kommen durch sorgfältige Beachtung der That¬
sachen und kritische Prüfung der Theorien zu dem Ergebniß, daß die Natur
wie die Naturwissenschaft den Forderungen des sittlich religiösen Bewußtseins
keineswegs widersprechen, sondern richtig verstanden in bestätigenden Einklang
mit ihnen stehen. Wir kommen zu einer Metaphysik, die von der Physik
selber gefordert und getragen wird.

Im ersten Bande von „Gott und Mensch" giebt uns Ulrici seine Psycho¬
logie. Es handelt sich um die Existenz und das Wesen der Seele, um ihre
Beziehung zur Natur nach unten, zu Gott, zu den Ideen des Guten, Wahren
und Schönen nach oben. Der Verfasser legt selber Gewicht auf seine Ver¬
handlungen mit den Materialisten von Confession und Profession, er fordert
sie von neuem zum offnen Kampf in der von ihm redigirten Zeitschrift her¬
aus; und da die Materialisten und blasirten oder nachplappernden Pessimisten
das große Wort in den Feuilletons führen und die Halbbildung beherrschen,
so wollen wir die bezüglichen Abschnitte kurz betrachten; sie führen uns zu¬
gleich zum Darwinismus, der eigentlich der Naturphilosophie angehört, die
Naturphilosophie unsrer Zeit in ihrem Mittelpunkt ausmacht.

Daß der Mensch nur das ist, was er ißt, daß die Gedanken und das
Selbstbewußtsein nur vom Gehirn ausgeschieden werden wie die Galle von
der Leber, nichts als eine Bewegung oder Umsetzung des Hirnstoffs seien,
wie Feuerbach, Bogt, Moleschott behaupten, das ist keineswegs eine durch Be¬
obachtung gewonnene, durch Experimente erhärtete Thatsache, sondern eine
Hypothese und Behauptung. Ulrici zeigt die Consequenzen derselben und
zeigt, daß sie alle Wissenschaft unmöglich mache. So wenig als von wahrem
oder unwahrem Urin könne man von falschen oder wahren Vorstellungen
reden, wenn die eine ebenso eine Secretion des Gehirns sei, wie der andere
eine der Nieren ist. Alle Gehirne sind dann durch denselben Naturmechanismus
hervorgebracht und fungiren mit derselben Nothwendigkeit, produciren Mei¬
nungen, Vorstellungen, Ueberzeugungen, die alle eine so gut wie die andere
unumgängliche Naturerscheinungen sind; es wäre widersinnig nach Wissenschaft
zu streben, weil jeder denkt was er denken muß, die Päpste den Shllabus,
die Materialisten den Atheismus. Rede man nicht von normalen und anor¬
malen Gehirnen! Nach welchem Kriterium will man das unterscheiden?
Unrechtlichkeit, Gewinnsucht, Genußbegierde sind verbreiteter als unverbrüch¬
liche Pflichttreue und opferwillige Tugend, der Dummen sind mehr als der
Weisen, und die einen haben so gut eine Befugniß wie die andern ihre Ge¬
hirne und Gehirnausscheidungen für normal zu erklären, da alle gleich zufällig
oder gleich nothwendig sind.

Der Materialist leugnet die Seele, weil er sie nicht sieht, aber er nimmt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133212"/>
          <p xml:id="ID_1572" prev="#ID_1571"> wo sie sich bescheiden muß, da die materiellen Kräfte und ihre Gesetze allein<lb/>
nicht mehr ausreichen. Wir kommen durch sorgfältige Beachtung der That¬<lb/>
sachen und kritische Prüfung der Theorien zu dem Ergebniß, daß die Natur<lb/>
wie die Naturwissenschaft den Forderungen des sittlich religiösen Bewußtseins<lb/>
keineswegs widersprechen, sondern richtig verstanden in bestätigenden Einklang<lb/>
mit ihnen stehen. Wir kommen zu einer Metaphysik, die von der Physik<lb/>
selber gefordert und getragen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1573"> Im ersten Bande von &#x201E;Gott und Mensch" giebt uns Ulrici seine Psycho¬<lb/>
logie. Es handelt sich um die Existenz und das Wesen der Seele, um ihre<lb/>
Beziehung zur Natur nach unten, zu Gott, zu den Ideen des Guten, Wahren<lb/>
und Schönen nach oben. Der Verfasser legt selber Gewicht auf seine Ver¬<lb/>
handlungen mit den Materialisten von Confession und Profession, er fordert<lb/>
sie von neuem zum offnen Kampf in der von ihm redigirten Zeitschrift her¬<lb/>
aus; und da die Materialisten und blasirten oder nachplappernden Pessimisten<lb/>
das große Wort in den Feuilletons führen und die Halbbildung beherrschen,<lb/>
so wollen wir die bezüglichen Abschnitte kurz betrachten; sie führen uns zu¬<lb/>
gleich zum Darwinismus, der eigentlich der Naturphilosophie angehört, die<lb/>
Naturphilosophie unsrer Zeit in ihrem Mittelpunkt ausmacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1574"> Daß der Mensch nur das ist, was er ißt, daß die Gedanken und das<lb/>
Selbstbewußtsein nur vom Gehirn ausgeschieden werden wie die Galle von<lb/>
der Leber, nichts als eine Bewegung oder Umsetzung des Hirnstoffs seien,<lb/>
wie Feuerbach, Bogt, Moleschott behaupten, das ist keineswegs eine durch Be¬<lb/>
obachtung gewonnene, durch Experimente erhärtete Thatsache, sondern eine<lb/>
Hypothese und Behauptung. Ulrici zeigt die Consequenzen derselben und<lb/>
zeigt, daß sie alle Wissenschaft unmöglich mache. So wenig als von wahrem<lb/>
oder unwahrem Urin könne man von falschen oder wahren Vorstellungen<lb/>
reden, wenn die eine ebenso eine Secretion des Gehirns sei, wie der andere<lb/>
eine der Nieren ist. Alle Gehirne sind dann durch denselben Naturmechanismus<lb/>
hervorgebracht und fungiren mit derselben Nothwendigkeit, produciren Mei¬<lb/>
nungen, Vorstellungen, Ueberzeugungen, die alle eine so gut wie die andere<lb/>
unumgängliche Naturerscheinungen sind; es wäre widersinnig nach Wissenschaft<lb/>
zu streben, weil jeder denkt was er denken muß, die Päpste den Shllabus,<lb/>
die Materialisten den Atheismus. Rede man nicht von normalen und anor¬<lb/>
malen Gehirnen! Nach welchem Kriterium will man das unterscheiden?<lb/>
Unrechtlichkeit, Gewinnsucht, Genußbegierde sind verbreiteter als unverbrüch¬<lb/>
liche Pflichttreue und opferwillige Tugend, der Dummen sind mehr als der<lb/>
Weisen, und die einen haben so gut eine Befugniß wie die andern ihre Ge¬<lb/>
hirne und Gehirnausscheidungen für normal zu erklären, da alle gleich zufällig<lb/>
oder gleich nothwendig sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1575" next="#ID_1576"> Der Materialist leugnet die Seele, weil er sie nicht sieht, aber er nimmt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0452] wo sie sich bescheiden muß, da die materiellen Kräfte und ihre Gesetze allein nicht mehr ausreichen. Wir kommen durch sorgfältige Beachtung der That¬ sachen und kritische Prüfung der Theorien zu dem Ergebniß, daß die Natur wie die Naturwissenschaft den Forderungen des sittlich religiösen Bewußtseins keineswegs widersprechen, sondern richtig verstanden in bestätigenden Einklang mit ihnen stehen. Wir kommen zu einer Metaphysik, die von der Physik selber gefordert und getragen wird. Im ersten Bande von „Gott und Mensch" giebt uns Ulrici seine Psycho¬ logie. Es handelt sich um die Existenz und das Wesen der Seele, um ihre Beziehung zur Natur nach unten, zu Gott, zu den Ideen des Guten, Wahren und Schönen nach oben. Der Verfasser legt selber Gewicht auf seine Ver¬ handlungen mit den Materialisten von Confession und Profession, er fordert sie von neuem zum offnen Kampf in der von ihm redigirten Zeitschrift her¬ aus; und da die Materialisten und blasirten oder nachplappernden Pessimisten das große Wort in den Feuilletons führen und die Halbbildung beherrschen, so wollen wir die bezüglichen Abschnitte kurz betrachten; sie führen uns zu¬ gleich zum Darwinismus, der eigentlich der Naturphilosophie angehört, die Naturphilosophie unsrer Zeit in ihrem Mittelpunkt ausmacht. Daß der Mensch nur das ist, was er ißt, daß die Gedanken und das Selbstbewußtsein nur vom Gehirn ausgeschieden werden wie die Galle von der Leber, nichts als eine Bewegung oder Umsetzung des Hirnstoffs seien, wie Feuerbach, Bogt, Moleschott behaupten, das ist keineswegs eine durch Be¬ obachtung gewonnene, durch Experimente erhärtete Thatsache, sondern eine Hypothese und Behauptung. Ulrici zeigt die Consequenzen derselben und zeigt, daß sie alle Wissenschaft unmöglich mache. So wenig als von wahrem oder unwahrem Urin könne man von falschen oder wahren Vorstellungen reden, wenn die eine ebenso eine Secretion des Gehirns sei, wie der andere eine der Nieren ist. Alle Gehirne sind dann durch denselben Naturmechanismus hervorgebracht und fungiren mit derselben Nothwendigkeit, produciren Mei¬ nungen, Vorstellungen, Ueberzeugungen, die alle eine so gut wie die andere unumgängliche Naturerscheinungen sind; es wäre widersinnig nach Wissenschaft zu streben, weil jeder denkt was er denken muß, die Päpste den Shllabus, die Materialisten den Atheismus. Rede man nicht von normalen und anor¬ malen Gehirnen! Nach welchem Kriterium will man das unterscheiden? Unrechtlichkeit, Gewinnsucht, Genußbegierde sind verbreiteter als unverbrüch¬ liche Pflichttreue und opferwillige Tugend, der Dummen sind mehr als der Weisen, und die einen haben so gut eine Befugniß wie die andern ihre Ge¬ hirne und Gehirnausscheidungen für normal zu erklären, da alle gleich zufällig oder gleich nothwendig sind. Der Materialist leugnet die Seele, weil er sie nicht sieht, aber er nimmt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/452
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/452>, abgerufen am 22.07.2024.