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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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möglich in Begleitung des gepfefferter Whitcvmb das enorme Land von Niver-
mouth bis New-Orleans zu Fuße zu durchmesse". Wir geben wie gesagt,
gerne zu, die seltsame Rolle des Elternhauses in der Geschichte eines "bösen
Buben" ist durch die eigenthümliche Lebenslage begründet, in welcher der
letztere aufwächst. Wir sind weit entfernt, diese Rolle, wie sie in der vor¬
liegenden Erzählung charakterifirt ist, als allgemein gültiges Paradigma für
das Verhältniß des Elternhauses zum Kinde in den Vereinigten Staaten an¬
zusehen. Aber der deutsche Leser wird mit uns doch sehr auffallend finden,
daß der junge Bailey nirgends in Rivermouth Gelegenheit findet, Blicke
in eine amerikanische Familienhäuslichkeit zu thun, die diesen Namen verdiente,
und die. wenn sie vorhanden gewesen wäre, doch gerade wegen seiner langen
Abwesenheit vom Elternhause ihn lebhaft hätte anziehen müssen. Von dem
freudigen Verkehr zwischen eigenen und fremden Kindern und Eltern, wie ihn
Reichenau so herzerquickend schildert, hier nirgend eine Spur -- gewiß nicht
aus Zufall oder aus Laune des Dichters. Aldrich würde uns amerikanische
Häuslichkeit gewiß so treu und warm geschildert haben, wie das amerikanische
Leben in allen seinen sonstigen Zügen, wenn er'in seinen Jugendtagen etwas
davon gesehen hätte. --

Noch fremdartiger berührt uns Deutsche aber wohl das Verhalten der
Backsische -- wenn diese Bezeichnung für ein Alter von sieben bis siebenzehn
Jahren erlaubt ist -- der "Primel-Schule" des Fräulein Gibbs in River¬
mouth gegenüber den Schülern der Tempelschule. "In einem fort gingen
Billets zwischen den Stubenleben und den Primeln hin und her. Billets,
an Pfeilspitzen gebunden, wurden zu den Fenstern des Schlafsaales hinein¬
geschossen, Billets wurden unter Zäune hineingeschoben und in die Stämme
verwitterter Bäume verborgen. Jede dichte Stelle in der Buchsbaumhecke,
welche die Pflanzschule umgab, konnte als Postbureau angesehen und benutzt
werden." Ja, Laura Rice, das zweite weibliche Ideal Bailey's aus der
Primelschule -- sein erstes war insgeheim in den gepfefferter Whitcomb ver¬
liebt -- war "ein alter Veteran und führte zuviel Kanonen für einen jungen
Menschen." "Sie kann das Poussiren nicht lassen, ich glaube, sie würde mit
einem kleinen Kinde poussiren, das noch auf den Armen getragen wird. Es
giebt kaum einen Burschen in der Schule, der nicht ihre Farben und etwas
von ihren Haaren getragen hätte. Sie giebt jetzt von ihren Haaren nichts
mehr aus. Es ist so ziemlich verbraucht worden. Die Nachfrage war stärker
als der Vorrath, wie Du siehst" -- sie hatte Bailey die glänzendsten Löckchen
vom Kopfe der Zofe des Fräulein Gibbs gesandt. -- "Es ist nun ganz schön.,
mit Laura Briefe zu wechseln, aber wenn eins sich irgend was Ernstliches
von ihr verspricht, so läßt der Eingeweihte das hübsch bleiben." So lautete
der Rath, der Bailey "von dem altersschwachen, abgehärmten und verbitterten


möglich in Begleitung des gepfefferter Whitcvmb das enorme Land von Niver-
mouth bis New-Orleans zu Fuße zu durchmesse». Wir geben wie gesagt,
gerne zu, die seltsame Rolle des Elternhauses in der Geschichte eines „bösen
Buben" ist durch die eigenthümliche Lebenslage begründet, in welcher der
letztere aufwächst. Wir sind weit entfernt, diese Rolle, wie sie in der vor¬
liegenden Erzählung charakterifirt ist, als allgemein gültiges Paradigma für
das Verhältniß des Elternhauses zum Kinde in den Vereinigten Staaten an¬
zusehen. Aber der deutsche Leser wird mit uns doch sehr auffallend finden,
daß der junge Bailey nirgends in Rivermouth Gelegenheit findet, Blicke
in eine amerikanische Familienhäuslichkeit zu thun, die diesen Namen verdiente,
und die. wenn sie vorhanden gewesen wäre, doch gerade wegen seiner langen
Abwesenheit vom Elternhause ihn lebhaft hätte anziehen müssen. Von dem
freudigen Verkehr zwischen eigenen und fremden Kindern und Eltern, wie ihn
Reichenau so herzerquickend schildert, hier nirgend eine Spur — gewiß nicht
aus Zufall oder aus Laune des Dichters. Aldrich würde uns amerikanische
Häuslichkeit gewiß so treu und warm geschildert haben, wie das amerikanische
Leben in allen seinen sonstigen Zügen, wenn er'in seinen Jugendtagen etwas
davon gesehen hätte. —

Noch fremdartiger berührt uns Deutsche aber wohl das Verhalten der
Backsische — wenn diese Bezeichnung für ein Alter von sieben bis siebenzehn
Jahren erlaubt ist — der „Primel-Schule" des Fräulein Gibbs in River¬
mouth gegenüber den Schülern der Tempelschule. „In einem fort gingen
Billets zwischen den Stubenleben und den Primeln hin und her. Billets,
an Pfeilspitzen gebunden, wurden zu den Fenstern des Schlafsaales hinein¬
geschossen, Billets wurden unter Zäune hineingeschoben und in die Stämme
verwitterter Bäume verborgen. Jede dichte Stelle in der Buchsbaumhecke,
welche die Pflanzschule umgab, konnte als Postbureau angesehen und benutzt
werden." Ja, Laura Rice, das zweite weibliche Ideal Bailey's aus der
Primelschule — sein erstes war insgeheim in den gepfefferter Whitcomb ver¬
liebt — war „ein alter Veteran und führte zuviel Kanonen für einen jungen
Menschen." „Sie kann das Poussiren nicht lassen, ich glaube, sie würde mit
einem kleinen Kinde poussiren, das noch auf den Armen getragen wird. Es
giebt kaum einen Burschen in der Schule, der nicht ihre Farben und etwas
von ihren Haaren getragen hätte. Sie giebt jetzt von ihren Haaren nichts
mehr aus. Es ist so ziemlich verbraucht worden. Die Nachfrage war stärker
als der Vorrath, wie Du siehst" — sie hatte Bailey die glänzendsten Löckchen
vom Kopfe der Zofe des Fräulein Gibbs gesandt. — „Es ist nun ganz schön.,
mit Laura Briefe zu wechseln, aber wenn eins sich irgend was Ernstliches
von ihr verspricht, so läßt der Eingeweihte das hübsch bleiben." So lautete
der Rath, der Bailey „von dem altersschwachen, abgehärmten und verbitterten


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[0435] möglich in Begleitung des gepfefferter Whitcvmb das enorme Land von Niver- mouth bis New-Orleans zu Fuße zu durchmesse». Wir geben wie gesagt, gerne zu, die seltsame Rolle des Elternhauses in der Geschichte eines „bösen Buben" ist durch die eigenthümliche Lebenslage begründet, in welcher der letztere aufwächst. Wir sind weit entfernt, diese Rolle, wie sie in der vor¬ liegenden Erzählung charakterifirt ist, als allgemein gültiges Paradigma für das Verhältniß des Elternhauses zum Kinde in den Vereinigten Staaten an¬ zusehen. Aber der deutsche Leser wird mit uns doch sehr auffallend finden, daß der junge Bailey nirgends in Rivermouth Gelegenheit findet, Blicke in eine amerikanische Familienhäuslichkeit zu thun, die diesen Namen verdiente, und die. wenn sie vorhanden gewesen wäre, doch gerade wegen seiner langen Abwesenheit vom Elternhause ihn lebhaft hätte anziehen müssen. Von dem freudigen Verkehr zwischen eigenen und fremden Kindern und Eltern, wie ihn Reichenau so herzerquickend schildert, hier nirgend eine Spur — gewiß nicht aus Zufall oder aus Laune des Dichters. Aldrich würde uns amerikanische Häuslichkeit gewiß so treu und warm geschildert haben, wie das amerikanische Leben in allen seinen sonstigen Zügen, wenn er'in seinen Jugendtagen etwas davon gesehen hätte. — Noch fremdartiger berührt uns Deutsche aber wohl das Verhalten der Backsische — wenn diese Bezeichnung für ein Alter von sieben bis siebenzehn Jahren erlaubt ist — der „Primel-Schule" des Fräulein Gibbs in River¬ mouth gegenüber den Schülern der Tempelschule. „In einem fort gingen Billets zwischen den Stubenleben und den Primeln hin und her. Billets, an Pfeilspitzen gebunden, wurden zu den Fenstern des Schlafsaales hinein¬ geschossen, Billets wurden unter Zäune hineingeschoben und in die Stämme verwitterter Bäume verborgen. Jede dichte Stelle in der Buchsbaumhecke, welche die Pflanzschule umgab, konnte als Postbureau angesehen und benutzt werden." Ja, Laura Rice, das zweite weibliche Ideal Bailey's aus der Primelschule — sein erstes war insgeheim in den gepfefferter Whitcomb ver¬ liebt — war „ein alter Veteran und führte zuviel Kanonen für einen jungen Menschen." „Sie kann das Poussiren nicht lassen, ich glaube, sie würde mit einem kleinen Kinde poussiren, das noch auf den Armen getragen wird. Es giebt kaum einen Burschen in der Schule, der nicht ihre Farben und etwas von ihren Haaren getragen hätte. Sie giebt jetzt von ihren Haaren nichts mehr aus. Es ist so ziemlich verbraucht worden. Die Nachfrage war stärker als der Vorrath, wie Du siehst" — sie hatte Bailey die glänzendsten Löckchen vom Kopfe der Zofe des Fräulein Gibbs gesandt. — „Es ist nun ganz schön., mit Laura Briefe zu wechseln, aber wenn eins sich irgend was Ernstliches von ihr verspricht, so läßt der Eingeweihte das hübsch bleiben." So lautete der Rath, der Bailey „von dem altersschwachen, abgehärmten und verbitterten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/435>, abgerufen am 23.07.2024.