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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Indessen meinen wir, der größte Theil unsrer Leser wird uns nur dankbar
sein, wenn wir ihnen überlassen, diese beste Frucht der Lectüre beider Werke
selbst zu pflücken, und ihnen den Genuß nicht schmälern durch Vorwegnahme
der schmackhaftesten Stücke. Es wird genügen, hier anzudeuten, daß dem deut¬
schen Leser beider Schriften zuerst und am bleibendsten ins Auge fallen muß
der gewaltige Unterschied deutschen und amerikanischen Familienlebens, der
hier zu Tage tritt. Reichenau's Kinder, Knaben und Mädchen und Heran¬
wachsende stehen, auch wenn sie uns in der Fremde (auf der Hochschule, oder
auf der Wanderschaft) entgegentreten, noch mit beiden Füßen am heimat¬
lichen Herd, mitten in den vier Wänden des deutschen Hauses. Und vol¬
lends im früheren Alter, der Progymnasialzeit und Gymnasialzeit -- d. h.
in dem Alter, in dem Aldrich's "böser Bube" vor uns auftritt -- ist das
Elternhaus und der Eltern Leitung für alle die kleinen Helden Reichenau's
der Mittelpunkt und die Stütze all ihres Handelns und Wirkens, auch für
die Jungen, geschweige denn für die Mädchen. Bei Aldrich dagegen erscheinen
die Eltern des Helden nur am Anfang und am Ende der Erzählung auf der
Bildfläche; wie antike Götter, deren Wille und Geschick die Schicksale der
Helden abwandelt zu Glück und Unglück. Fast wie das antike Fatum er¬
scheinen die Eltern im Leben des Knaben Bailey; wie die personifizirte deutsche
Liebe dagegen bei Reichenau. Wir heben, um gerecht zu sein, gern hervor,
daß allerdings die ganze (sicherlich auf eigenen Jugenderlebnisfen beruhende)
Anlage der Darstellung des Aldrich es mit sich bringt, daß den Eltern diese
fatalistische, außerhalb der Welt des Knabens stehende Rolle zugetheilt wird.
Denn der Knabe wird aus finanziellen Gründen aus dem Elternhause in
New-Orleans von den Eltern weggebracht zu seinem mütterlichen Großvater
Capitain Rudler in Rivermouth, einer verflossenen kleinen Seestadt in der
Nähe von Boston. Hier verlebt er seine Jugend; der finanzielle Ruin und
Tod des Vaters in New-Orleans reißt ihn am Ende der Erzählung aus der
Tempelschule von Rivermouth in die harte Schule des Lebens. , Nur zweimal,
zum Beginn und am Ende seiner Schuljahre erleben wir einen Kuß seiner
Mutter. Seine Sehnsucht nach Hause in dieser langen Zeit tritt nur selten
zu Tage; zum ersten Mal sofort nach der Rückkehr der Eltern zum Süden.
Hier hat diese Sehnsucht einen starken Beigeschmack von körperlichem Frösteln.
"Als sie fort waren, erfüllte mein junges Herz ein Gefühl der Vereinsamung,
von dem ich mir nie hatte träumen lassen. Ich schlich mich hinweg nach dem
Stalle, schlang meine Arme um den Hals des Zigeunermädchens und schluchzte
laut. Auch sie war ja vom sonnigen Süden gekommen und jeht ein Fremd¬
ling in fremdem Lande!" Später aber, wenn unangenehme Nachrichten von
Hause kommen, tritt die Sehnsucht nach den Eltern immer in der reizenden
Gestalt des Vorsatzes auf, dem Großvater Rudler wegzulaufen und, wenn


Indessen meinen wir, der größte Theil unsrer Leser wird uns nur dankbar
sein, wenn wir ihnen überlassen, diese beste Frucht der Lectüre beider Werke
selbst zu pflücken, und ihnen den Genuß nicht schmälern durch Vorwegnahme
der schmackhaftesten Stücke. Es wird genügen, hier anzudeuten, daß dem deut¬
schen Leser beider Schriften zuerst und am bleibendsten ins Auge fallen muß
der gewaltige Unterschied deutschen und amerikanischen Familienlebens, der
hier zu Tage tritt. Reichenau's Kinder, Knaben und Mädchen und Heran¬
wachsende stehen, auch wenn sie uns in der Fremde (auf der Hochschule, oder
auf der Wanderschaft) entgegentreten, noch mit beiden Füßen am heimat¬
lichen Herd, mitten in den vier Wänden des deutschen Hauses. Und vol¬
lends im früheren Alter, der Progymnasialzeit und Gymnasialzeit — d. h.
in dem Alter, in dem Aldrich's „böser Bube" vor uns auftritt — ist das
Elternhaus und der Eltern Leitung für alle die kleinen Helden Reichenau's
der Mittelpunkt und die Stütze all ihres Handelns und Wirkens, auch für
die Jungen, geschweige denn für die Mädchen. Bei Aldrich dagegen erscheinen
die Eltern des Helden nur am Anfang und am Ende der Erzählung auf der
Bildfläche; wie antike Götter, deren Wille und Geschick die Schicksale der
Helden abwandelt zu Glück und Unglück. Fast wie das antike Fatum er¬
scheinen die Eltern im Leben des Knaben Bailey; wie die personifizirte deutsche
Liebe dagegen bei Reichenau. Wir heben, um gerecht zu sein, gern hervor,
daß allerdings die ganze (sicherlich auf eigenen Jugenderlebnisfen beruhende)
Anlage der Darstellung des Aldrich es mit sich bringt, daß den Eltern diese
fatalistische, außerhalb der Welt des Knabens stehende Rolle zugetheilt wird.
Denn der Knabe wird aus finanziellen Gründen aus dem Elternhause in
New-Orleans von den Eltern weggebracht zu seinem mütterlichen Großvater
Capitain Rudler in Rivermouth, einer verflossenen kleinen Seestadt in der
Nähe von Boston. Hier verlebt er seine Jugend; der finanzielle Ruin und
Tod des Vaters in New-Orleans reißt ihn am Ende der Erzählung aus der
Tempelschule von Rivermouth in die harte Schule des Lebens. , Nur zweimal,
zum Beginn und am Ende seiner Schuljahre erleben wir einen Kuß seiner
Mutter. Seine Sehnsucht nach Hause in dieser langen Zeit tritt nur selten
zu Tage; zum ersten Mal sofort nach der Rückkehr der Eltern zum Süden.
Hier hat diese Sehnsucht einen starken Beigeschmack von körperlichem Frösteln.
„Als sie fort waren, erfüllte mein junges Herz ein Gefühl der Vereinsamung,
von dem ich mir nie hatte träumen lassen. Ich schlich mich hinweg nach dem
Stalle, schlang meine Arme um den Hals des Zigeunermädchens und schluchzte
laut. Auch sie war ja vom sonnigen Süden gekommen und jeht ein Fremd¬
ling in fremdem Lande!" Später aber, wenn unangenehme Nachrichten von
Hause kommen, tritt die Sehnsucht nach den Eltern immer in der reizenden
Gestalt des Vorsatzes auf, dem Großvater Rudler wegzulaufen und, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/434>, abgerufen am 23.07.2024.