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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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aber einem direkt und absolut ablehnenden Urtheile ist von vornherein die
Möglichkeit benommen, jeder Polemik gewissermaßen die Spitze abgebrochen.

Ich berühre noch ein paar Momente, in denen grade sich das Interesse
historischer Forschung concentriren muß.

Kostim hat sehr richtig hervorgehoben und nachdrücklich betont, daß die
eigentliche Bedeutung der Wormser wie der Leipziger Erklärungen Luther's
in der Verwerfung der conciliaren Autorität und Unfehlbarkeit beruht. Wenn
diesen Punkt in dieser Weise jetzt auch die Theologen auffassen und festhalten
wollen, so darf dies wohl von jetzt ab als allgemein zugegeben angesehen
werden: es ist jedenfalls ein Fortschritt des historischen Urtheiles darin enthalten.

Was das Verhältniß Luther's zu den Humanisten angeht, so hat Kostim
auch diese Frage seiner eingehenden und vorsichtig alle Momente abwägenden
Betrachtung unterworfen; man stößt in den einschlagenden Abschnitten auf
manche scharfsinnige Bemerkung. Und doch befriedigt das Resultat seiner
Untersuchung nicht. Eines hat Kostim hierbei gar nicht in Anschlag gebracht,
-- den nachweisbaren und an einzelnen Stellen auch schon nachgewiesenen
Einfluß der humanistischen Schriftstellerei auf Luther's Schriften und. Aeuße¬
rungen von 1520 und 1S21; er faßt einzelne Briefe Luther's viel zu friedlich
und zahm auf. Was Vorreiter mit seinem tendenziösen aber nicht üblen
Ausdruck "das Ringen Luther's mit dem revolutionären Prinzipe" getauft hat.
verschwindet bei Kostim nahezu ganz aus Luther's Leben. Hier gilt es eben,
sich in die Situation des damaligen Momentes ganz einzuleben; hier muß
der Historiker wie ein Mitlebender und Betheiligter zu denken und zu fühlen
verstehen: dann werden Luther's Worte erst ihren vollen Sinn empfangen,
dann schwindet jede Möglichkeit abschwächender Erklärung einem Manne
gegenüber, der allerdings von revolutionärer Erhebung und Gewaltsamkeit
abnähme, dem es aber zugleich feststeht, daß das "Evangelium" nur durch eine
Revolution Fortgang gewinnen könne. Wer den Versuch machen will, die ent¬
scheidenden Momente der Jahre 1520, 1521, 1522 in Luther's Seele nach¬
zuleben, der wird den "Revolutionär" Luther verstehen -- als einen ganz
anderen Charakter, wie der Theologe Luther von Kostim uns gezeigt wird.

Auch Erasmus kommt bei Kostim trotz manHer guten Einzelheit im
Ganzen noch nicht zu seinem Recht. Kostim steht von vornherein auf Luther's
Seite, wenn er auch bei Luther anfangs eine größere Aufrichtigkeit gewünscht
hätte. Ein historisches Urtheil wird ebenso Luther wie Erasmus zunächst
subjektive Berechtigung zuerkennen müssen und erst von da aus im Stande
sein über den Gegensatz der Beiden sich zu erheben und über die relative
Werthschätzung der Parteien hinaus zu einer objektiven Würdigung des
Streites zu gelangen.


aber einem direkt und absolut ablehnenden Urtheile ist von vornherein die
Möglichkeit benommen, jeder Polemik gewissermaßen die Spitze abgebrochen.

Ich berühre noch ein paar Momente, in denen grade sich das Interesse
historischer Forschung concentriren muß.

Kostim hat sehr richtig hervorgehoben und nachdrücklich betont, daß die
eigentliche Bedeutung der Wormser wie der Leipziger Erklärungen Luther's
in der Verwerfung der conciliaren Autorität und Unfehlbarkeit beruht. Wenn
diesen Punkt in dieser Weise jetzt auch die Theologen auffassen und festhalten
wollen, so darf dies wohl von jetzt ab als allgemein zugegeben angesehen
werden: es ist jedenfalls ein Fortschritt des historischen Urtheiles darin enthalten.

Was das Verhältniß Luther's zu den Humanisten angeht, so hat Kostim
auch diese Frage seiner eingehenden und vorsichtig alle Momente abwägenden
Betrachtung unterworfen; man stößt in den einschlagenden Abschnitten auf
manche scharfsinnige Bemerkung. Und doch befriedigt das Resultat seiner
Untersuchung nicht. Eines hat Kostim hierbei gar nicht in Anschlag gebracht,
— den nachweisbaren und an einzelnen Stellen auch schon nachgewiesenen
Einfluß der humanistischen Schriftstellerei auf Luther's Schriften und. Aeuße¬
rungen von 1520 und 1S21; er faßt einzelne Briefe Luther's viel zu friedlich
und zahm auf. Was Vorreiter mit seinem tendenziösen aber nicht üblen
Ausdruck „das Ringen Luther's mit dem revolutionären Prinzipe" getauft hat.
verschwindet bei Kostim nahezu ganz aus Luther's Leben. Hier gilt es eben,
sich in die Situation des damaligen Momentes ganz einzuleben; hier muß
der Historiker wie ein Mitlebender und Betheiligter zu denken und zu fühlen
verstehen: dann werden Luther's Worte erst ihren vollen Sinn empfangen,
dann schwindet jede Möglichkeit abschwächender Erklärung einem Manne
gegenüber, der allerdings von revolutionärer Erhebung und Gewaltsamkeit
abnähme, dem es aber zugleich feststeht, daß das „Evangelium" nur durch eine
Revolution Fortgang gewinnen könne. Wer den Versuch machen will, die ent¬
scheidenden Momente der Jahre 1520, 1521, 1522 in Luther's Seele nach¬
zuleben, der wird den „Revolutionär" Luther verstehen — als einen ganz
anderen Charakter, wie der Theologe Luther von Kostim uns gezeigt wird.

Auch Erasmus kommt bei Kostim trotz manHer guten Einzelheit im
Ganzen noch nicht zu seinem Recht. Kostim steht von vornherein auf Luther's
Seite, wenn er auch bei Luther anfangs eine größere Aufrichtigkeit gewünscht
hätte. Ein historisches Urtheil wird ebenso Luther wie Erasmus zunächst
subjektive Berechtigung zuerkennen müssen und erst von da aus im Stande
sein über den Gegensatz der Beiden sich zu erheben und über die relative
Werthschätzung der Parteien hinaus zu einer objektiven Würdigung des
Streites zu gelangen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/415>, abgerufen am 23.07.2024.