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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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tailfrage Schätzenswerthes geleistet: wir rühmen ihm hier gerne nach, daß er
immer und unausgesetzt die seinen theologischen Studien benachbarten Arbeiter
und Arbeiten im Auge behält.

Bei der Betrachtung der Reformationszeit wird die Persönlichkeit Luiher's
immer in elfter Linie das Auge auf sich ziehen. Ein gutes Leben Luther's
wird eine Reihe der wichtigsten Kapitel aus der Reformationsgeschichte in sich
begreifen. Die Literatur über Luther ist auch in der That eine sehr ausge¬
dehnte, reichhaltige und vielseitige; und doch sind die Schwierigkeiten einer
wirklich wissenschaftlichen Behandlung grade dieser Aufgabe so gewaltige, daß
eine irgendwie befriedigende Lösung bisher noch nicht gelungen ist.

Eine Uebersicht der einigermaßen hervorstechenden Leistungen im Fache der
Lutherbiographie habe ich vor einiger Zeit zu geben versucht und eine Reihe
von Punkten bezeichnet, deren Behandlung und Erledigung vom Standpunkte
des Historikers, nicht des Theologen, mir wünschenswerth oder unerläßlich
erschienen.*) Dieser frühere Versuch einer zusammenhängenden Kritik legt mir
heute die Pflicht auf, auch über das neue große Werk von Kostim, das
an der Spitze dieses Artikels genannt ist, ein Urtheil abzugeben. Vorbehalt¬
lich der näheren Erläuterungen, die sogleich folgen sollen, kann ich dasselbe
ganz kurz dahin zusammenfassen, daß von allen bisherigen theologischen Dar¬
stellungen Luther's das Buch Kostim's weitaus die beste gebracht hat.

Es würde seltsam aussehen, wenn ich einem Schriftsteller von den
Leistungen und dem Ansehen Kostim's gegenüber mich lange dabei aufhalten
wollte, das eingehende Sachverständniß oder die ausgedehnte Kenntniß der
Literatur oder die Vollständigkeit in der Benutzung der quellenmäßigen Ueber¬
lieferung besonders zu loben: alles das versteht sich hier von selbst und konnte
nach den früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem Gebiete genau so vor¬
ausgesetzt werden, wie es sich in der That jetzt erwiesen hat. Ich will lieber
versuchen die Eigenthümlichkeiten dieser Biographie zu bezeichnen.

Kostim sieht Luther an mit den Augen des seiner Kirche ergebenen po¬
sitiven protestantischen Theologen, er betrachtet ihn, nicht ausschließlich aber
doch vornehmlich, als Theologen; Luther ist ihm vorwiegend der Reformator
der Kirche, der Schöpfer der evangelisch - protestantischen Kirche. Der Biograph
steht also auf einem Standpunkt, den er als einen durch seinen Helden begrün¬
deten mit warmer Liebe verehrt. Kostim gehört nicht zu den modernen Luthe¬
ranern confessioneller Färbung, aber ebenso wenig sitzt er unter den "liberalen"
Theologen des Protestantenvereines: er ist ein Mann der Mitte, der Versöh¬
nung, des Ausgleiches. In unverkennbaren Zügen ist dem ganzen Buche diese



') Zur LulheMemtur; in "Studien und Skizzen zur Geschichte der Nefmnuitionszcit,"
Leipzig, F. W. Grunvw 1874, S. 205 2>!7.

tailfrage Schätzenswerthes geleistet: wir rühmen ihm hier gerne nach, daß er
immer und unausgesetzt die seinen theologischen Studien benachbarten Arbeiter
und Arbeiten im Auge behält.

Bei der Betrachtung der Reformationszeit wird die Persönlichkeit Luiher's
immer in elfter Linie das Auge auf sich ziehen. Ein gutes Leben Luther's
wird eine Reihe der wichtigsten Kapitel aus der Reformationsgeschichte in sich
begreifen. Die Literatur über Luther ist auch in der That eine sehr ausge¬
dehnte, reichhaltige und vielseitige; und doch sind die Schwierigkeiten einer
wirklich wissenschaftlichen Behandlung grade dieser Aufgabe so gewaltige, daß
eine irgendwie befriedigende Lösung bisher noch nicht gelungen ist.

Eine Uebersicht der einigermaßen hervorstechenden Leistungen im Fache der
Lutherbiographie habe ich vor einiger Zeit zu geben versucht und eine Reihe
von Punkten bezeichnet, deren Behandlung und Erledigung vom Standpunkte
des Historikers, nicht des Theologen, mir wünschenswerth oder unerläßlich
erschienen.*) Dieser frühere Versuch einer zusammenhängenden Kritik legt mir
heute die Pflicht auf, auch über das neue große Werk von Kostim, das
an der Spitze dieses Artikels genannt ist, ein Urtheil abzugeben. Vorbehalt¬
lich der näheren Erläuterungen, die sogleich folgen sollen, kann ich dasselbe
ganz kurz dahin zusammenfassen, daß von allen bisherigen theologischen Dar¬
stellungen Luther's das Buch Kostim's weitaus die beste gebracht hat.

Es würde seltsam aussehen, wenn ich einem Schriftsteller von den
Leistungen und dem Ansehen Kostim's gegenüber mich lange dabei aufhalten
wollte, das eingehende Sachverständniß oder die ausgedehnte Kenntniß der
Literatur oder die Vollständigkeit in der Benutzung der quellenmäßigen Ueber¬
lieferung besonders zu loben: alles das versteht sich hier von selbst und konnte
nach den früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem Gebiete genau so vor¬
ausgesetzt werden, wie es sich in der That jetzt erwiesen hat. Ich will lieber
versuchen die Eigenthümlichkeiten dieser Biographie zu bezeichnen.

Kostim sieht Luther an mit den Augen des seiner Kirche ergebenen po¬
sitiven protestantischen Theologen, er betrachtet ihn, nicht ausschließlich aber
doch vornehmlich, als Theologen; Luther ist ihm vorwiegend der Reformator
der Kirche, der Schöpfer der evangelisch - protestantischen Kirche. Der Biograph
steht also auf einem Standpunkt, den er als einen durch seinen Helden begrün¬
deten mit warmer Liebe verehrt. Kostim gehört nicht zu den modernen Luthe¬
ranern confessioneller Färbung, aber ebenso wenig sitzt er unter den „liberalen"
Theologen des Protestantenvereines: er ist ein Mann der Mitte, der Versöh¬
nung, des Ausgleiches. In unverkennbaren Zügen ist dem ganzen Buche diese



') Zur LulheMemtur; in „Studien und Skizzen zur Geschichte der Nefmnuitionszcit,"
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[0411] tailfrage Schätzenswerthes geleistet: wir rühmen ihm hier gerne nach, daß er immer und unausgesetzt die seinen theologischen Studien benachbarten Arbeiter und Arbeiten im Auge behält. Bei der Betrachtung der Reformationszeit wird die Persönlichkeit Luiher's immer in elfter Linie das Auge auf sich ziehen. Ein gutes Leben Luther's wird eine Reihe der wichtigsten Kapitel aus der Reformationsgeschichte in sich begreifen. Die Literatur über Luther ist auch in der That eine sehr ausge¬ dehnte, reichhaltige und vielseitige; und doch sind die Schwierigkeiten einer wirklich wissenschaftlichen Behandlung grade dieser Aufgabe so gewaltige, daß eine irgendwie befriedigende Lösung bisher noch nicht gelungen ist. Eine Uebersicht der einigermaßen hervorstechenden Leistungen im Fache der Lutherbiographie habe ich vor einiger Zeit zu geben versucht und eine Reihe von Punkten bezeichnet, deren Behandlung und Erledigung vom Standpunkte des Historikers, nicht des Theologen, mir wünschenswerth oder unerläßlich erschienen.*) Dieser frühere Versuch einer zusammenhängenden Kritik legt mir heute die Pflicht auf, auch über das neue große Werk von Kostim, das an der Spitze dieses Artikels genannt ist, ein Urtheil abzugeben. Vorbehalt¬ lich der näheren Erläuterungen, die sogleich folgen sollen, kann ich dasselbe ganz kurz dahin zusammenfassen, daß von allen bisherigen theologischen Dar¬ stellungen Luther's das Buch Kostim's weitaus die beste gebracht hat. Es würde seltsam aussehen, wenn ich einem Schriftsteller von den Leistungen und dem Ansehen Kostim's gegenüber mich lange dabei aufhalten wollte, das eingehende Sachverständniß oder die ausgedehnte Kenntniß der Literatur oder die Vollständigkeit in der Benutzung der quellenmäßigen Ueber¬ lieferung besonders zu loben: alles das versteht sich hier von selbst und konnte nach den früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem Gebiete genau so vor¬ ausgesetzt werden, wie es sich in der That jetzt erwiesen hat. Ich will lieber versuchen die Eigenthümlichkeiten dieser Biographie zu bezeichnen. Kostim sieht Luther an mit den Augen des seiner Kirche ergebenen po¬ sitiven protestantischen Theologen, er betrachtet ihn, nicht ausschließlich aber doch vornehmlich, als Theologen; Luther ist ihm vorwiegend der Reformator der Kirche, der Schöpfer der evangelisch - protestantischen Kirche. Der Biograph steht also auf einem Standpunkt, den er als einen durch seinen Helden begrün¬ deten mit warmer Liebe verehrt. Kostim gehört nicht zu den modernen Luthe¬ ranern confessioneller Färbung, aber ebenso wenig sitzt er unter den „liberalen" Theologen des Protestantenvereines: er ist ein Mann der Mitte, der Versöh¬ nung, des Ausgleiches. In unverkennbaren Zügen ist dem ganzen Buche diese ') Zur LulheMemtur; in „Studien und Skizzen zur Geschichte der Nefmnuitionszcit," Leipzig, F. W. Grunvw 1874, S. 205 2>!7.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/411>, abgerufen am 23.07.2024.