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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Mur's Luther.*)

Die Geschichte der Reformationszeit pflegt gleichzeitig von Theologen und
von Historikern studirt und bearbeitet zu werden. Das ist ein Verhältniß,
das für beide Theile die größten Vortheile mit sich bringt oder bringen kann,
sobald der Eine von dem Andern zu lernen sich entschließen will.

Allerdings machen die Theologen wohl geltend, daß es sich in der Re-
formationsgeschichte in erster Linie um theologische oder kirchliche Angelegen¬
heiten handele und daß deßhalb der Fachtheologe den eigentlich competenten
Arbeiter und Richter über diese Dinge abgeben müsse. Die Erwägung trifft
nicht ganz zum Ziele. Die Behandlung der Reformationsgeschichte setzt ohne
Zweifel theologische und kirchenhistorische Kenntnisse voraus, aber Jedermann
ist im Stande, einerlei ob er Theologe ist oder Laie, in den Besitz derselben
zu gelangen. Kenntnisse von theologischen Dingen, die sich Jeder erwerben
kann, dem es um sie zu thun ist, nicht aber specifisch theologische Denkungs-
art oder Auffassung werden von jedem Bearbeiter der Reformationsgeschichte
mit Recht gefordert. Ja, eine allzugroße Erfüllung des eigenen Sinnes mit
theologischen Anschauungen, eine allzu spezifische theologische Richtung des
Denkens, -- ich will nicht sagen, verhindert, -- aber erschwert jedenfalls das
Verständniß der Reformationsgeschichte.

Das Bedenken, das der Historiker gegen seine theologischen Mitarbeiter
geltend macht, wiegt etwas schwerer. Der Theologe, der für sich einer be¬
stimmten kirchlichen Ueberzeugung anhängt und ihr dient, pflegt der Gefahr sich
auszusetzen, und wir sehen nur zu oft, daß er ihr erliegt, daß er mit seiner histori¬
schen Arbeit über die Reformationszeit seine eigenen bestimmten kirchlichen An¬
schauungen verbindet und vertritt. Je lebendiger die eigene Ueberzeugung, desto
größer diese Gefahr. Es mag freilich selten-geschehen, daß diese Klippe einer be¬
stimmten Tendenz vollständig vermieden wird, aber es ist doch nicht geradezu
unmöglich ihr aus dem Wege zu gehen: es hat Theologen gegeben und es giebt
Theologen, die bis zu einem gewissen Grade einer unbefangenen historischen
Betrachtungsweise ihren Sinn geöffnet haben. Vor allem, es würde sich



^ Julius Kostim: Martin Luther. Sem Leben und seine Schriften. 2 Bände.
Gberfeld, N. L. Friderichs. 1875.
Grenzboten. I. 187S. 61
Mur's Luther.*)

Die Geschichte der Reformationszeit pflegt gleichzeitig von Theologen und
von Historikern studirt und bearbeitet zu werden. Das ist ein Verhältniß,
das für beide Theile die größten Vortheile mit sich bringt oder bringen kann,
sobald der Eine von dem Andern zu lernen sich entschließen will.

Allerdings machen die Theologen wohl geltend, daß es sich in der Re-
formationsgeschichte in erster Linie um theologische oder kirchliche Angelegen¬
heiten handele und daß deßhalb der Fachtheologe den eigentlich competenten
Arbeiter und Richter über diese Dinge abgeben müsse. Die Erwägung trifft
nicht ganz zum Ziele. Die Behandlung der Reformationsgeschichte setzt ohne
Zweifel theologische und kirchenhistorische Kenntnisse voraus, aber Jedermann
ist im Stande, einerlei ob er Theologe ist oder Laie, in den Besitz derselben
zu gelangen. Kenntnisse von theologischen Dingen, die sich Jeder erwerben
kann, dem es um sie zu thun ist, nicht aber specifisch theologische Denkungs-
art oder Auffassung werden von jedem Bearbeiter der Reformationsgeschichte
mit Recht gefordert. Ja, eine allzugroße Erfüllung des eigenen Sinnes mit
theologischen Anschauungen, eine allzu spezifische theologische Richtung des
Denkens, — ich will nicht sagen, verhindert, — aber erschwert jedenfalls das
Verständniß der Reformationsgeschichte.

Das Bedenken, das der Historiker gegen seine theologischen Mitarbeiter
geltend macht, wiegt etwas schwerer. Der Theologe, der für sich einer be¬
stimmten kirchlichen Ueberzeugung anhängt und ihr dient, pflegt der Gefahr sich
auszusetzen, und wir sehen nur zu oft, daß er ihr erliegt, daß er mit seiner histori¬
schen Arbeit über die Reformationszeit seine eigenen bestimmten kirchlichen An¬
schauungen verbindet und vertritt. Je lebendiger die eigene Ueberzeugung, desto
größer diese Gefahr. Es mag freilich selten-geschehen, daß diese Klippe einer be¬
stimmten Tendenz vollständig vermieden wird, aber es ist doch nicht geradezu
unmöglich ihr aus dem Wege zu gehen: es hat Theologen gegeben und es giebt
Theologen, die bis zu einem gewissen Grade einer unbefangenen historischen
Betrachtungsweise ihren Sinn geöffnet haben. Vor allem, es würde sich



^ Julius Kostim: Martin Luther. Sem Leben und seine Schriften. 2 Bände.
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[0409] Mur's Luther.*) Die Geschichte der Reformationszeit pflegt gleichzeitig von Theologen und von Historikern studirt und bearbeitet zu werden. Das ist ein Verhältniß, das für beide Theile die größten Vortheile mit sich bringt oder bringen kann, sobald der Eine von dem Andern zu lernen sich entschließen will. Allerdings machen die Theologen wohl geltend, daß es sich in der Re- formationsgeschichte in erster Linie um theologische oder kirchliche Angelegen¬ heiten handele und daß deßhalb der Fachtheologe den eigentlich competenten Arbeiter und Richter über diese Dinge abgeben müsse. Die Erwägung trifft nicht ganz zum Ziele. Die Behandlung der Reformationsgeschichte setzt ohne Zweifel theologische und kirchenhistorische Kenntnisse voraus, aber Jedermann ist im Stande, einerlei ob er Theologe ist oder Laie, in den Besitz derselben zu gelangen. Kenntnisse von theologischen Dingen, die sich Jeder erwerben kann, dem es um sie zu thun ist, nicht aber specifisch theologische Denkungs- art oder Auffassung werden von jedem Bearbeiter der Reformationsgeschichte mit Recht gefordert. Ja, eine allzugroße Erfüllung des eigenen Sinnes mit theologischen Anschauungen, eine allzu spezifische theologische Richtung des Denkens, — ich will nicht sagen, verhindert, — aber erschwert jedenfalls das Verständniß der Reformationsgeschichte. Das Bedenken, das der Historiker gegen seine theologischen Mitarbeiter geltend macht, wiegt etwas schwerer. Der Theologe, der für sich einer be¬ stimmten kirchlichen Ueberzeugung anhängt und ihr dient, pflegt der Gefahr sich auszusetzen, und wir sehen nur zu oft, daß er ihr erliegt, daß er mit seiner histori¬ schen Arbeit über die Reformationszeit seine eigenen bestimmten kirchlichen An¬ schauungen verbindet und vertritt. Je lebendiger die eigene Ueberzeugung, desto größer diese Gefahr. Es mag freilich selten-geschehen, daß diese Klippe einer be¬ stimmten Tendenz vollständig vermieden wird, aber es ist doch nicht geradezu unmöglich ihr aus dem Wege zu gehen: es hat Theologen gegeben und es giebt Theologen, die bis zu einem gewissen Grade einer unbefangenen historischen Betrachtungsweise ihren Sinn geöffnet haben. Vor allem, es würde sich ^ Julius Kostim: Martin Luther. Sem Leben und seine Schriften. 2 Bände. Gberfeld, N. L. Friderichs. 1875. Grenzboten. I. 187S. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/409>, abgerufen am 23.07.2024.