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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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entgegenzutreten. Jene Partei stürzte im März 1870 den Fürsten Hohenlohe
und blieb auch unter dessen Nachfolger Grasen Bray noch maßgebend; von
Augenblicke an, wo die äußere Gefahr herannahte, begann aber ihre Zersetzung,
welche seitdem unter ständiger Einwirkung der Alternative: Anlehnung an
das Ausland oder aufrichtiges Zusammengehen mit dem Norden weiter um
sich griff. Es zeigte sich dieser Zerfall bereits, als im Mai 1870 Lukas und
Bucher aus der Partei schieden, weil der in derselben bis dahin maßgebende
Jörg ihnen nicht weit genug ging und gleichzeitig Pfarrer Mähr vom Club
ausgeschlossen wurde, weil er sich der Jörg'schen Disciplin nicht fügen wollte.
Beim Beschluß inbetreff der Kriegsfrage von 1870 sowie später hinsichtlich
der Versailler Verträge schrumpften die Extremen auf 47 zusammen.

Welchen Boden die Patrioten durch die Ereignisse von 1870 verloren
hatten, trat bei den Neichstagswahlen vom 3. März 1871 hervor, von denen
30 auf Liberale und 18 auf Klerikale fielen. Da kam den Patrioten die
Theilnahme der bäuerischen Staatsregierung am Kampfe gegen Rom zu Hülse.
In der Bevölkerung verstanden sie es, diesen für ihre Sache auszunutzen, nicht
aber im Rathe der Krone. Hier wurde vielmehr mittelst Graf Bray's Er¬
setzung durch Graf Hegnenberg - Dux (21. Aug. 1871) eine größere Entschie¬
denheit sowohl im Kampfe gegen die Klerikalen als auch in der Anlehnung
an das Reich herbeigeführt. Zwar unternahmen die Patrioten in der Session
von 1872 nach beiden Richtungen hin heftige Sturmangriffe gegen das Mi¬
nisterium, sie besaßen aber nun auch ständig schon nicht mehr die Mehrheit
der Stimmen. Der erste dieser Angriffe (27. Jan.) bezüglich einer Verfassungs¬
verletzung, welche der Cultusminister v. Lutz durch Nichtentfernung des ex-
communicirten Pfarrers Nenftle von Mering begangen haben sollte, wurde
freilich nur mit 72 gegen 72 Stimmen abgeschlagen, allein der Schüttinger'sche
Antrag bezüglich der Neservatrechte (9. Febr.) und der Freytag'sche wegen
Aufhebung von Gesandtschaften mit größerer Mehrheit. Hegnenberg's Tod
(2. Juni 1872) verschaffte den Patrioten eine Gelegenheit, die Bildung eines
Ministeriums zu versuchen, allein ein Ministerium v. Gaffer scheiterte bereits
an der Einsicht der betreffenden Parteigenossen, daß eine Art von Kriegser¬
klärung gegen das Reich unmöglich sei.

In der vom 4. Nov. 1873 eröffneten Session verloren die Patrioten
sogar den bisher in ihren Händen befindlich gewesenen Vorsitz der Kammer.
Die Wahl des liberalen Abg. v. Stauffenberg wurde dadurch herbeigeführt,
daß 0 Patrioten von der Partei abfielen, weil sie nach Ueberzeugung stimmen
und nicht sich terrorisiren lassen wollten. Diese "freie Vereinigung" führte
dann (8. Nov.) u. A. auch - mit 77 gegen 74 Stimmen -- die Entschei¬
dung für Volk's Antrag zu Gunsten der Ausdehnung der Reichscompetenz
auf das gesammte bürgerliche Recht herbei.


entgegenzutreten. Jene Partei stürzte im März 1870 den Fürsten Hohenlohe
und blieb auch unter dessen Nachfolger Grasen Bray noch maßgebend; von
Augenblicke an, wo die äußere Gefahr herannahte, begann aber ihre Zersetzung,
welche seitdem unter ständiger Einwirkung der Alternative: Anlehnung an
das Ausland oder aufrichtiges Zusammengehen mit dem Norden weiter um
sich griff. Es zeigte sich dieser Zerfall bereits, als im Mai 1870 Lukas und
Bucher aus der Partei schieden, weil der in derselben bis dahin maßgebende
Jörg ihnen nicht weit genug ging und gleichzeitig Pfarrer Mähr vom Club
ausgeschlossen wurde, weil er sich der Jörg'schen Disciplin nicht fügen wollte.
Beim Beschluß inbetreff der Kriegsfrage von 1870 sowie später hinsichtlich
der Versailler Verträge schrumpften die Extremen auf 47 zusammen.

Welchen Boden die Patrioten durch die Ereignisse von 1870 verloren
hatten, trat bei den Neichstagswahlen vom 3. März 1871 hervor, von denen
30 auf Liberale und 18 auf Klerikale fielen. Da kam den Patrioten die
Theilnahme der bäuerischen Staatsregierung am Kampfe gegen Rom zu Hülse.
In der Bevölkerung verstanden sie es, diesen für ihre Sache auszunutzen, nicht
aber im Rathe der Krone. Hier wurde vielmehr mittelst Graf Bray's Er¬
setzung durch Graf Hegnenberg - Dux (21. Aug. 1871) eine größere Entschie¬
denheit sowohl im Kampfe gegen die Klerikalen als auch in der Anlehnung
an das Reich herbeigeführt. Zwar unternahmen die Patrioten in der Session
von 1872 nach beiden Richtungen hin heftige Sturmangriffe gegen das Mi¬
nisterium, sie besaßen aber nun auch ständig schon nicht mehr die Mehrheit
der Stimmen. Der erste dieser Angriffe (27. Jan.) bezüglich einer Verfassungs¬
verletzung, welche der Cultusminister v. Lutz durch Nichtentfernung des ex-
communicirten Pfarrers Nenftle von Mering begangen haben sollte, wurde
freilich nur mit 72 gegen 72 Stimmen abgeschlagen, allein der Schüttinger'sche
Antrag bezüglich der Neservatrechte (9. Febr.) und der Freytag'sche wegen
Aufhebung von Gesandtschaften mit größerer Mehrheit. Hegnenberg's Tod
(2. Juni 1872) verschaffte den Patrioten eine Gelegenheit, die Bildung eines
Ministeriums zu versuchen, allein ein Ministerium v. Gaffer scheiterte bereits
an der Einsicht der betreffenden Parteigenossen, daß eine Art von Kriegser¬
klärung gegen das Reich unmöglich sei.

In der vom 4. Nov. 1873 eröffneten Session verloren die Patrioten
sogar den bisher in ihren Händen befindlich gewesenen Vorsitz der Kammer.
Die Wahl des liberalen Abg. v. Stauffenberg wurde dadurch herbeigeführt,
daß 0 Patrioten von der Partei abfielen, weil sie nach Ueberzeugung stimmen
und nicht sich terrorisiren lassen wollten. Diese „freie Vereinigung" führte
dann (8. Nov.) u. A. auch - mit 77 gegen 74 Stimmen — die Entschei¬
dung für Volk's Antrag zu Gunsten der Ausdehnung der Reichscompetenz
auf das gesammte bürgerliche Recht herbei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/366>, abgerufen am 03.07.2024.