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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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seiner Verhochdeutschung entgegen. Vor mehr als dreißig Jahren kam er in
den Kreisen bürgerlicher Kinder noch annähernd zur Geltung. Heute ist das
völlig anders. Man wird zwar viel Gelegenheit haben, die oft recitirten Ge¬
dichte Sommer's zu hören. Aber ein Sprachkundiger wird auch aus diesen
Recitationen herausfühlen, wie selbst da die Verhochdeutschung sich geltend
macht und Sommer's Schöpfungen eine sehr genaue Kenntniß des Idioms
beanspruchen, um gut und völlig richtig declamirt zu werden.

Zur Zeit als Sommer den Dialect fest in sich aufnahm, lebte Rudol-
stadt noch in eigenthümlicher, jetzt schwer zu begreifenden Abgeschlossenheit. --
Die Wanderlust war noch nicht ausgebildet, der Fremdenverkehr war geradezu
ein beschränkter zu nennen. Die Residenz hatte außer dem vorwiegenden Be¬
amtenstande nur den kleinen Handwerker, der nebenbei Ackerbau und Viehzucht
trieb. Dem Kulturhistoriker hob sich sofort aus der Beschaffenheit der Alt-
und Neustadt die Zusammensetzung der Bevölkerung ab, die in einzelnen
Theilen, namentlich der dorfähnlichen Borstadt der Altstadt das Gepräge des
bis an die Dürftigkeit hinabreichenden Lebens sofort erkennen ließ.

Es waren daher auch vorzüglich die Bewohner der Altstadt, welche sich
des reinen Idioms befleißigten, und es spielte wohl ein seltner Zufall, daß
Sommer's Wiege, wenn auch nicht in der Altstadt selbst, doch in einer stillen
Seitenstraße des cultivirten Theils ihre Stätte aufgeschlagen, die wohl von
ihrer eigenthümlichen Bildung und der hervorragenden Beschäftigung der
Bewohner, welche früher Wirker gewesen sein müssen, ihren wenig poetischen
Namen, die Strumpfgasse führte. Sommer selbst schildert in dem die äußern
Eigenthümlichkeiten seiner Vaterstadt betreffenden allerliebsten Verse (V. Ur. 29)
die Gasse selbst als eine Merkwürdigkeit, indem er singt:


Mir dann arm' Strompf, su weit un grusz
Dar kann vol Baue fasse
De Hihnertreppe fibre bei uns
Gcradcwegs zum Schlosse.

In dieser Gasse war ebenfalls ganz unzweifelhaft ein reines Idiom zu fin¬
den. Sommer's Eltern, welche dem gebildeten Stande angehörten, waren so zu
sagen in den kleinen Handwerker- und ackerbautreibenden Stand hineingefahren.
Sein Vater war Mitglied der stets als trefflich geltenden fürstlichen Kapelle,
und man sah der Wohnung, dem begehrten Ziel meiner jugendlichen Wan¬
derungen sofort an, daß es sich von den gewerbtreibenden Häusern unter¬
schied. Die theilweise Enge der Gasse hatte noch zu meiner Zeit die berech¬
tigte Eigenthümlichkeit, daß die Angelegenheiten der Einzelnen sehr leicht Ge¬
meingut der Anwohner wurden, die mit großer Agilität über die Straße ver¬
handelten oder unter den Thüren nach vollbrachter Arbeit die Neuigkeiten des
Tags durchsprachen, die sich in dem eigenthümlichen Idiom besonders komisch


seiner Verhochdeutschung entgegen. Vor mehr als dreißig Jahren kam er in
den Kreisen bürgerlicher Kinder noch annähernd zur Geltung. Heute ist das
völlig anders. Man wird zwar viel Gelegenheit haben, die oft recitirten Ge¬
dichte Sommer's zu hören. Aber ein Sprachkundiger wird auch aus diesen
Recitationen herausfühlen, wie selbst da die Verhochdeutschung sich geltend
macht und Sommer's Schöpfungen eine sehr genaue Kenntniß des Idioms
beanspruchen, um gut und völlig richtig declamirt zu werden.

Zur Zeit als Sommer den Dialect fest in sich aufnahm, lebte Rudol-
stadt noch in eigenthümlicher, jetzt schwer zu begreifenden Abgeschlossenheit. —
Die Wanderlust war noch nicht ausgebildet, der Fremdenverkehr war geradezu
ein beschränkter zu nennen. Die Residenz hatte außer dem vorwiegenden Be¬
amtenstande nur den kleinen Handwerker, der nebenbei Ackerbau und Viehzucht
trieb. Dem Kulturhistoriker hob sich sofort aus der Beschaffenheit der Alt-
und Neustadt die Zusammensetzung der Bevölkerung ab, die in einzelnen
Theilen, namentlich der dorfähnlichen Borstadt der Altstadt das Gepräge des
bis an die Dürftigkeit hinabreichenden Lebens sofort erkennen ließ.

Es waren daher auch vorzüglich die Bewohner der Altstadt, welche sich
des reinen Idioms befleißigten, und es spielte wohl ein seltner Zufall, daß
Sommer's Wiege, wenn auch nicht in der Altstadt selbst, doch in einer stillen
Seitenstraße des cultivirten Theils ihre Stätte aufgeschlagen, die wohl von
ihrer eigenthümlichen Bildung und der hervorragenden Beschäftigung der
Bewohner, welche früher Wirker gewesen sein müssen, ihren wenig poetischen
Namen, die Strumpfgasse führte. Sommer selbst schildert in dem die äußern
Eigenthümlichkeiten seiner Vaterstadt betreffenden allerliebsten Verse (V. Ur. 29)
die Gasse selbst als eine Merkwürdigkeit, indem er singt:


Mir dann arm' Strompf, su weit un grusz
Dar kann vol Baue fasse
De Hihnertreppe fibre bei uns
Gcradcwegs zum Schlosse.

In dieser Gasse war ebenfalls ganz unzweifelhaft ein reines Idiom zu fin¬
den. Sommer's Eltern, welche dem gebildeten Stande angehörten, waren so zu
sagen in den kleinen Handwerker- und ackerbautreibenden Stand hineingefahren.
Sein Vater war Mitglied der stets als trefflich geltenden fürstlichen Kapelle,
und man sah der Wohnung, dem begehrten Ziel meiner jugendlichen Wan¬
derungen sofort an, daß es sich von den gewerbtreibenden Häusern unter¬
schied. Die theilweise Enge der Gasse hatte noch zu meiner Zeit die berech¬
tigte Eigenthümlichkeit, daß die Angelegenheiten der Einzelnen sehr leicht Ge¬
meingut der Anwohner wurden, die mit großer Agilität über die Straße ver¬
handelten oder unter den Thüren nach vollbrachter Arbeit die Neuigkeiten des
Tags durchsprachen, die sich in dem eigenthümlichen Idiom besonders komisch


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[0344] seiner Verhochdeutschung entgegen. Vor mehr als dreißig Jahren kam er in den Kreisen bürgerlicher Kinder noch annähernd zur Geltung. Heute ist das völlig anders. Man wird zwar viel Gelegenheit haben, die oft recitirten Ge¬ dichte Sommer's zu hören. Aber ein Sprachkundiger wird auch aus diesen Recitationen herausfühlen, wie selbst da die Verhochdeutschung sich geltend macht und Sommer's Schöpfungen eine sehr genaue Kenntniß des Idioms beanspruchen, um gut und völlig richtig declamirt zu werden. Zur Zeit als Sommer den Dialect fest in sich aufnahm, lebte Rudol- stadt noch in eigenthümlicher, jetzt schwer zu begreifenden Abgeschlossenheit. — Die Wanderlust war noch nicht ausgebildet, der Fremdenverkehr war geradezu ein beschränkter zu nennen. Die Residenz hatte außer dem vorwiegenden Be¬ amtenstande nur den kleinen Handwerker, der nebenbei Ackerbau und Viehzucht trieb. Dem Kulturhistoriker hob sich sofort aus der Beschaffenheit der Alt- und Neustadt die Zusammensetzung der Bevölkerung ab, die in einzelnen Theilen, namentlich der dorfähnlichen Borstadt der Altstadt das Gepräge des bis an die Dürftigkeit hinabreichenden Lebens sofort erkennen ließ. Es waren daher auch vorzüglich die Bewohner der Altstadt, welche sich des reinen Idioms befleißigten, und es spielte wohl ein seltner Zufall, daß Sommer's Wiege, wenn auch nicht in der Altstadt selbst, doch in einer stillen Seitenstraße des cultivirten Theils ihre Stätte aufgeschlagen, die wohl von ihrer eigenthümlichen Bildung und der hervorragenden Beschäftigung der Bewohner, welche früher Wirker gewesen sein müssen, ihren wenig poetischen Namen, die Strumpfgasse führte. Sommer selbst schildert in dem die äußern Eigenthümlichkeiten seiner Vaterstadt betreffenden allerliebsten Verse (V. Ur. 29) die Gasse selbst als eine Merkwürdigkeit, indem er singt: Mir dann arm' Strompf, su weit un grusz Dar kann vol Baue fasse De Hihnertreppe fibre bei uns Gcradcwegs zum Schlosse. In dieser Gasse war ebenfalls ganz unzweifelhaft ein reines Idiom zu fin¬ den. Sommer's Eltern, welche dem gebildeten Stande angehörten, waren so zu sagen in den kleinen Handwerker- und ackerbautreibenden Stand hineingefahren. Sein Vater war Mitglied der stets als trefflich geltenden fürstlichen Kapelle, und man sah der Wohnung, dem begehrten Ziel meiner jugendlichen Wan¬ derungen sofort an, daß es sich von den gewerbtreibenden Häusern unter¬ schied. Die theilweise Enge der Gasse hatte noch zu meiner Zeit die berech¬ tigte Eigenthümlichkeit, daß die Angelegenheiten der Einzelnen sehr leicht Ge¬ meingut der Anwohner wurden, die mit großer Agilität über die Straße ver¬ handelten oder unter den Thüren nach vollbrachter Arbeit die Neuigkeiten des Tags durchsprachen, die sich in dem eigenthümlichen Idiom besonders komisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/344>, abgerufen am 23.07.2024.