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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Von C. A. H. Burkhardt.

Seit länger als dreißig Jahren hat das Thüringer Land unendlich viel
an seinen Eigenthümlichkeiten verloren. Der gewaltige Prozeß der Verände¬
rung erstreckt sich auf das Gesammtleben; Land und Leute sind in ihren An¬
schauungen, Gebräuchen und Sitten nicht mehr dieselben; das platte Land
mit seinen Bewohnern strebt auch im Aeußern nach städtischen Gewohnheiten
und eine natürliche Folge ist, daß auch die Idiome Thüringens in bedauer¬
licher Weise sich bis zur Unkenntlichkeit abschleifen und verlieren. Diesem
Vernichtungsprozeß gegenüber haben wir alle Ursache, für die Rettung unserer
wirklich berechtigten Eigenthümlichkeiten nach Kräften einzutreten.

Als im Sommer vorigen Jahres eine neue Verkehrslinie das Herz des
Thüringer Landes erschloß, da jubelte alle Welt in dem heutigen Saalthale.
Der große Zug der Touristen hatte dasselbe noch intact gelassen; denn man
hatte bisher stets den bequemern Weg über Weimar vorgezogen, um möglichst
schnell in das an Schönheiten reiche Schwarzburger Land zu gelangen. Das
Saalthal war im Grunde genommen von der modernen Wanderlust noch
nicht ergriffen. Anders jetzt, wo in unabsehbaren Windungen die Schienen¬
wege dem eigensinnigen Laufe der Saale folgen. Es war als ob die Be¬
wohner der Schneckenhäuser des Saalthals, mit einem Male in Bewegung
gesetzt, sich zu einem großen Rendez-vous auf den Burgen des lieblichen Thals
vereinigt hätten. Mitten in diesem Jubel ertappte ich mich auf wenig kosmo¬
politischen Ideen, die sich geneigt zeigten, die Schienenwege als die unversöhn¬
lichsten Feinde alles historisch Gewordenen hinzustellen. -- Die Sprache einer
großen Berliner Gesellschaft, die sich wenig anmuthig in den breiten Thüringer
Dialekt mischte, mochte viel zu dem Ideengange beitragen. Ich erinnerte
mich an die Berliner Colonien am Eingang zum Schwarzburger Thal, und
kam im weitern Ausbau meiner wenig kosmopolischen Betrachtungen auf die
Einbürgerung fremder Dialekte, welche ohne besondern Kampf das alte Be¬
rechtigte verwischen und vertilgen. Es lag nahe, daß sich die Gedanken aus
die Schöpfungen unseres Sommer lenkten.

"Unseres Sommer"! Das kann der Thüringer mit gutem Fuge
sagen. Zweifelsohne sind seine "Rudolstädter Gedichte", wie man kurzhin
zu sagen beliebt, auch weit über die Grenzen des engen Baterlandes bekannt.
Aber im Großen und Ganzen schwebt ein Dunkel über Sommer's Persön¬
lichkeit, über jenem Leben und Schaffen, dem wir seine in vielfachen Bezieh¬
ungen vortrefflichen Schöpfungen verdanken. Ich darf dies dreist behaupten.


Von C. A. H. Burkhardt.

Seit länger als dreißig Jahren hat das Thüringer Land unendlich viel
an seinen Eigenthümlichkeiten verloren. Der gewaltige Prozeß der Verände¬
rung erstreckt sich auf das Gesammtleben; Land und Leute sind in ihren An¬
schauungen, Gebräuchen und Sitten nicht mehr dieselben; das platte Land
mit seinen Bewohnern strebt auch im Aeußern nach städtischen Gewohnheiten
und eine natürliche Folge ist, daß auch die Idiome Thüringens in bedauer¬
licher Weise sich bis zur Unkenntlichkeit abschleifen und verlieren. Diesem
Vernichtungsprozeß gegenüber haben wir alle Ursache, für die Rettung unserer
wirklich berechtigten Eigenthümlichkeiten nach Kräften einzutreten.

Als im Sommer vorigen Jahres eine neue Verkehrslinie das Herz des
Thüringer Landes erschloß, da jubelte alle Welt in dem heutigen Saalthale.
Der große Zug der Touristen hatte dasselbe noch intact gelassen; denn man
hatte bisher stets den bequemern Weg über Weimar vorgezogen, um möglichst
schnell in das an Schönheiten reiche Schwarzburger Land zu gelangen. Das
Saalthal war im Grunde genommen von der modernen Wanderlust noch
nicht ergriffen. Anders jetzt, wo in unabsehbaren Windungen die Schienen¬
wege dem eigensinnigen Laufe der Saale folgen. Es war als ob die Be¬
wohner der Schneckenhäuser des Saalthals, mit einem Male in Bewegung
gesetzt, sich zu einem großen Rendez-vous auf den Burgen des lieblichen Thals
vereinigt hätten. Mitten in diesem Jubel ertappte ich mich auf wenig kosmo¬
politischen Ideen, die sich geneigt zeigten, die Schienenwege als die unversöhn¬
lichsten Feinde alles historisch Gewordenen hinzustellen. — Die Sprache einer
großen Berliner Gesellschaft, die sich wenig anmuthig in den breiten Thüringer
Dialekt mischte, mochte viel zu dem Ideengange beitragen. Ich erinnerte
mich an die Berliner Colonien am Eingang zum Schwarzburger Thal, und
kam im weitern Ausbau meiner wenig kosmopolischen Betrachtungen auf die
Einbürgerung fremder Dialekte, welche ohne besondern Kampf das alte Be¬
rechtigte verwischen und vertilgen. Es lag nahe, daß sich die Gedanken aus
die Schöpfungen unseres Sommer lenkten.

„Unseres Sommer"! Das kann der Thüringer mit gutem Fuge
sagen. Zweifelsohne sind seine „Rudolstädter Gedichte", wie man kurzhin
zu sagen beliebt, auch weit über die Grenzen des engen Baterlandes bekannt.
Aber im Großen und Ganzen schwebt ein Dunkel über Sommer's Persön¬
lichkeit, über jenem Leben und Schaffen, dem wir seine in vielfachen Bezieh¬
ungen vortrefflichen Schöpfungen verdanken. Ich darf dies dreist behaupten.


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[0341] Von C. A. H. Burkhardt. Seit länger als dreißig Jahren hat das Thüringer Land unendlich viel an seinen Eigenthümlichkeiten verloren. Der gewaltige Prozeß der Verände¬ rung erstreckt sich auf das Gesammtleben; Land und Leute sind in ihren An¬ schauungen, Gebräuchen und Sitten nicht mehr dieselben; das platte Land mit seinen Bewohnern strebt auch im Aeußern nach städtischen Gewohnheiten und eine natürliche Folge ist, daß auch die Idiome Thüringens in bedauer¬ licher Weise sich bis zur Unkenntlichkeit abschleifen und verlieren. Diesem Vernichtungsprozeß gegenüber haben wir alle Ursache, für die Rettung unserer wirklich berechtigten Eigenthümlichkeiten nach Kräften einzutreten. Als im Sommer vorigen Jahres eine neue Verkehrslinie das Herz des Thüringer Landes erschloß, da jubelte alle Welt in dem heutigen Saalthale. Der große Zug der Touristen hatte dasselbe noch intact gelassen; denn man hatte bisher stets den bequemern Weg über Weimar vorgezogen, um möglichst schnell in das an Schönheiten reiche Schwarzburger Land zu gelangen. Das Saalthal war im Grunde genommen von der modernen Wanderlust noch nicht ergriffen. Anders jetzt, wo in unabsehbaren Windungen die Schienen¬ wege dem eigensinnigen Laufe der Saale folgen. Es war als ob die Be¬ wohner der Schneckenhäuser des Saalthals, mit einem Male in Bewegung gesetzt, sich zu einem großen Rendez-vous auf den Burgen des lieblichen Thals vereinigt hätten. Mitten in diesem Jubel ertappte ich mich auf wenig kosmo¬ politischen Ideen, die sich geneigt zeigten, die Schienenwege als die unversöhn¬ lichsten Feinde alles historisch Gewordenen hinzustellen. — Die Sprache einer großen Berliner Gesellschaft, die sich wenig anmuthig in den breiten Thüringer Dialekt mischte, mochte viel zu dem Ideengange beitragen. Ich erinnerte mich an die Berliner Colonien am Eingang zum Schwarzburger Thal, und kam im weitern Ausbau meiner wenig kosmopolischen Betrachtungen auf die Einbürgerung fremder Dialekte, welche ohne besondern Kampf das alte Be¬ rechtigte verwischen und vertilgen. Es lag nahe, daß sich die Gedanken aus die Schöpfungen unseres Sommer lenkten. „Unseres Sommer"! Das kann der Thüringer mit gutem Fuge sagen. Zweifelsohne sind seine „Rudolstädter Gedichte", wie man kurzhin zu sagen beliebt, auch weit über die Grenzen des engen Baterlandes bekannt. Aber im Großen und Ganzen schwebt ein Dunkel über Sommer's Persön¬ lichkeit, über jenem Leben und Schaffen, dem wir seine in vielfachen Bezieh¬ ungen vortrefflichen Schöpfungen verdanken. Ich darf dies dreist behaupten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/341>, abgerufen am 23.07.2024.