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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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und des Reiches nicht zusammen, sondern nebeneinander herliefen, datirt seit
der Gründung der Luxemburgischen Hausmacht. Es ist doch wohl nicht zu¬
treffend, wenn der Verfasser einmal darüber klagt, daß sich der Westen dem
königlichen Einflüsse ganz entzogen hätte; es entspricht der wirklichen Lage
der Dinge wohl mehr zu sagen, daß der König sich von der Leitung des
westlichen Deutschlands zurückzog. Das gilt aber schon von Karl IV,, dessen
Hauptleistung doch immer die bleibt, Böhmen, Mähren, Schlesien, die Lausitzer
und die Mark, lauter ostwärts gelegene, ursprünglich slawische, nun schon
mehr oder weniger germanisirte Lande zu einem Staatskörper vereinigt zu
haben. Warum er trotzdem mit König Wenzel erst begonnen hat, motivirt
der Verfasser damit, daß er nicht habe warten wollen, bis die wichtigste Bor¬
arbeit zur Geschichte Karl's IV. seine zwar schon lange verheißenen, aber noch
nicht erschienenen Regesten, herausgekommen seien, ein immer hintristiger, wenn
auch bedauerlicher Grund. Inzwischen ist übrigens das erste Heft derselben
erschienen.

Gegenüber der eigentlichen Kaiserzeit bis zum Untergange der Hohen-
staufen liegt das historische Material für die Periode vom Interregnum bis
zur Reformation zum großen Theil noch in chaotischer Unordnung. Die Zahl
der gleichzeitigen Schriftsteller, die als Quellen dienen können, ist sehr gering,
dagegen wächst die Zahl der Urkunden in viele Tausende. Was die Neichsge-
schichte an Tiefe und Zusammenhang verliert, gewinnt sie an Breite und
üppigem Leben im Einzelnen. Was von der wissenschaftlichen Zurüstung des
Materials aus neuerer Zeit dem Verfasser am meisten zu Gute gekommen ist,
sind die deutschen Städtechroniken und die Neichstagsakten, die Beide der Muni-
ficenz des verstorbenen und des regierenden Königs von Bayern zu danken sind,
die eine Hälfte des Buches beruht hauptsächlich darauf.

König Wenzel erfreut sich nicht eines besonderen Rufes, und seine Ge¬
schichte ist außerhalb der speciellen Fachkreise wenig bekannt. Die alten Verse
des Volksliedes bei Soltau


König Karol gab die Bulle,
Wenzel macht sich selbst zur nulle.

resumiren auch für manchen gebildeten Deutschen die Kenntniß, die ihm die
Schulzeit von der Geschichte beider Männer zurückgelassen hat. Dann haben
uns freilich Uhland's herrliche Dichtungen den alten Grainer, die trotzigen
Herren von den Nitterbünden, die streitbaren Bürger Ukas und der andern
Schwabenstädte zu vertrauten Figuren gemacht, aber über dem romantischen
Interesse ist der politische Gehalt dieser Kämpfe wenig zum Bewußtsein ge¬
kommen. Und es hat sich doch auf den Schlachtfeldern von Neutlingen und
Döfflngen um recht folgenschwere Erscheinungen gehandelt.

Die Entstehung und das allmähliche aber stetige Wachsthum des großen


und des Reiches nicht zusammen, sondern nebeneinander herliefen, datirt seit
der Gründung der Luxemburgischen Hausmacht. Es ist doch wohl nicht zu¬
treffend, wenn der Verfasser einmal darüber klagt, daß sich der Westen dem
königlichen Einflüsse ganz entzogen hätte; es entspricht der wirklichen Lage
der Dinge wohl mehr zu sagen, daß der König sich von der Leitung des
westlichen Deutschlands zurückzog. Das gilt aber schon von Karl IV,, dessen
Hauptleistung doch immer die bleibt, Böhmen, Mähren, Schlesien, die Lausitzer
und die Mark, lauter ostwärts gelegene, ursprünglich slawische, nun schon
mehr oder weniger germanisirte Lande zu einem Staatskörper vereinigt zu
haben. Warum er trotzdem mit König Wenzel erst begonnen hat, motivirt
der Verfasser damit, daß er nicht habe warten wollen, bis die wichtigste Bor¬
arbeit zur Geschichte Karl's IV. seine zwar schon lange verheißenen, aber noch
nicht erschienenen Regesten, herausgekommen seien, ein immer hintristiger, wenn
auch bedauerlicher Grund. Inzwischen ist übrigens das erste Heft derselben
erschienen.

Gegenüber der eigentlichen Kaiserzeit bis zum Untergange der Hohen-
staufen liegt das historische Material für die Periode vom Interregnum bis
zur Reformation zum großen Theil noch in chaotischer Unordnung. Die Zahl
der gleichzeitigen Schriftsteller, die als Quellen dienen können, ist sehr gering,
dagegen wächst die Zahl der Urkunden in viele Tausende. Was die Neichsge-
schichte an Tiefe und Zusammenhang verliert, gewinnt sie an Breite und
üppigem Leben im Einzelnen. Was von der wissenschaftlichen Zurüstung des
Materials aus neuerer Zeit dem Verfasser am meisten zu Gute gekommen ist,
sind die deutschen Städtechroniken und die Neichstagsakten, die Beide der Muni-
ficenz des verstorbenen und des regierenden Königs von Bayern zu danken sind,
die eine Hälfte des Buches beruht hauptsächlich darauf.

König Wenzel erfreut sich nicht eines besonderen Rufes, und seine Ge¬
schichte ist außerhalb der speciellen Fachkreise wenig bekannt. Die alten Verse
des Volksliedes bei Soltau


König Karol gab die Bulle,
Wenzel macht sich selbst zur nulle.

resumiren auch für manchen gebildeten Deutschen die Kenntniß, die ihm die
Schulzeit von der Geschichte beider Männer zurückgelassen hat. Dann haben
uns freilich Uhland's herrliche Dichtungen den alten Grainer, die trotzigen
Herren von den Nitterbünden, die streitbaren Bürger Ukas und der andern
Schwabenstädte zu vertrauten Figuren gemacht, aber über dem romantischen
Interesse ist der politische Gehalt dieser Kämpfe wenig zum Bewußtsein ge¬
kommen. Und es hat sich doch auf den Schlachtfeldern von Neutlingen und
Döfflngen um recht folgenschwere Erscheinungen gehandelt.

Die Entstehung und das allmähliche aber stetige Wachsthum des großen


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[0316] und des Reiches nicht zusammen, sondern nebeneinander herliefen, datirt seit der Gründung der Luxemburgischen Hausmacht. Es ist doch wohl nicht zu¬ treffend, wenn der Verfasser einmal darüber klagt, daß sich der Westen dem königlichen Einflüsse ganz entzogen hätte; es entspricht der wirklichen Lage der Dinge wohl mehr zu sagen, daß der König sich von der Leitung des westlichen Deutschlands zurückzog. Das gilt aber schon von Karl IV,, dessen Hauptleistung doch immer die bleibt, Böhmen, Mähren, Schlesien, die Lausitzer und die Mark, lauter ostwärts gelegene, ursprünglich slawische, nun schon mehr oder weniger germanisirte Lande zu einem Staatskörper vereinigt zu haben. Warum er trotzdem mit König Wenzel erst begonnen hat, motivirt der Verfasser damit, daß er nicht habe warten wollen, bis die wichtigste Bor¬ arbeit zur Geschichte Karl's IV. seine zwar schon lange verheißenen, aber noch nicht erschienenen Regesten, herausgekommen seien, ein immer hintristiger, wenn auch bedauerlicher Grund. Inzwischen ist übrigens das erste Heft derselben erschienen. Gegenüber der eigentlichen Kaiserzeit bis zum Untergange der Hohen- staufen liegt das historische Material für die Periode vom Interregnum bis zur Reformation zum großen Theil noch in chaotischer Unordnung. Die Zahl der gleichzeitigen Schriftsteller, die als Quellen dienen können, ist sehr gering, dagegen wächst die Zahl der Urkunden in viele Tausende. Was die Neichsge- schichte an Tiefe und Zusammenhang verliert, gewinnt sie an Breite und üppigem Leben im Einzelnen. Was von der wissenschaftlichen Zurüstung des Materials aus neuerer Zeit dem Verfasser am meisten zu Gute gekommen ist, sind die deutschen Städtechroniken und die Neichstagsakten, die Beide der Muni- ficenz des verstorbenen und des regierenden Königs von Bayern zu danken sind, die eine Hälfte des Buches beruht hauptsächlich darauf. König Wenzel erfreut sich nicht eines besonderen Rufes, und seine Ge¬ schichte ist außerhalb der speciellen Fachkreise wenig bekannt. Die alten Verse des Volksliedes bei Soltau König Karol gab die Bulle, Wenzel macht sich selbst zur nulle. resumiren auch für manchen gebildeten Deutschen die Kenntniß, die ihm die Schulzeit von der Geschichte beider Männer zurückgelassen hat. Dann haben uns freilich Uhland's herrliche Dichtungen den alten Grainer, die trotzigen Herren von den Nitterbünden, die streitbaren Bürger Ukas und der andern Schwabenstädte zu vertrauten Figuren gemacht, aber über dem romantischen Interesse ist der politische Gehalt dieser Kämpfe wenig zum Bewußtsein ge¬ kommen. Und es hat sich doch auf den Schlachtfeldern von Neutlingen und Döfflngen um recht folgenschwere Erscheinungen gehandelt. Die Entstehung und das allmähliche aber stetige Wachsthum des großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/316>, abgerufen am 23.07.2024.