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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Line neue Heschichte des deutschen Kelches.

Es will scheinen, als ob die wissenschaftliche Geschichtschreibung in Deutsch¬
land von den großen Ereignissen unserer Zeit weniger Antrieb zur Darstellung
auch ferner liegender Perioden der Reichsgeschichte erhalten hat, als es doch
in der Natur dieser einen so langen Zeitraum unserer politischen Entwicklung
abschließenden Ereignisse liegen sollte. Denn unwillkürlich wird das Gefühl
des Unmuths, mit dem wir das alte Reich verfallen und die deutschen Dinge
immer verderblichere Bahnen einschlagen sehen, heute durch das Bewußtsein
gemildert, daß die politische Kraft der Nation dadurch nicht gebrochen worden
ist, daß sie sich nach langem Umherirren doch auf einen zum Ziele der poli¬
tischen Einheit, wenn auch in loserer Form als bei anderen Nationen führenden
Weg gefunden hat. So gesellt sich zu der gesteigerten Lebhaftigkeit des Na¬
tionalgefühls doch eine gesättigte Ruhe, und die Zeit erleichtert es einem .Ge¬
schichtschreiber Deutschlands die Stimmung zu finden, die allein seinem Werke
zugänglich ist, und die es zugleich seinem Publikum sympathisch macht.
Freilich einen Erfolg, wie ihn Gtesebrecht, Raumer, Ranke, Hauffer für ihre
die Hauptepochen der deutschen Geschichte beschreibenden Werke erzielt haben.
Wird sich nicht von vornherein der Darstellung jedes Zeitraums vorhersagen
^- aber auch nicht absprechen lassen; es kommt eben, wenn das Werk sonst
an die Höhe der Geschichtschreibung heranragt, erst auf die Probe an. Denn
auch die Zeiten, die keinen Kaiser Otto und keinen Luther hervorgebracht
haben, sind voller Leben, und es ist auch nicht reizlos dem Regen der Kräfte
und Gedanken nachzugehen, wo sie sich in keiner großen Gestalt verkörpern,
sondern im wirren Durcheinander kleinerer Geister verzehren. Die Zeiten
des 14. und Is. Jahrhunderts sind ganz besonders dieser Art, und es ist
daher mit Freude das Werk des Breslauer Professors Theodor Lindner
Zu begrüßen, der uns eine "Geschichte des deutschen Reiches vom
Ende des 14. Jahrhunderts an bis zur Reformation*) verspricht,
und diese soeben mit dem die Hälfte der Regierung des Königs Wenzel um¬
fassenden ersten Bande eröffnet hat.

Der Verfasser bekennt selbst in der Vorrede: "Vielleicht wäre es ange¬
messener gewesen, mit der Regierung Karl's IV. zu beginnen." Gewiß wäre
es das gewesen. Schon allein die Gründung der Luxemburgischen Großmacht
>in Osten des Reichs auf halb slawischen Boden ist für das Verhältniß von
Kaiser und Reich von schwerwiegender Bedeutung geworden, da der Thron
fast ein Jahrhundert in dieser Familie verblieb. Jenes in der Habsburgischen
Periode immer mehr wachsende Uebel. daß die Interessen des Kaiserhauses



") Braunschweig. C, A. Schwetsche K Sohn (Brcchn) 1875.
Line neue Heschichte des deutschen Kelches.

Es will scheinen, als ob die wissenschaftliche Geschichtschreibung in Deutsch¬
land von den großen Ereignissen unserer Zeit weniger Antrieb zur Darstellung
auch ferner liegender Perioden der Reichsgeschichte erhalten hat, als es doch
in der Natur dieser einen so langen Zeitraum unserer politischen Entwicklung
abschließenden Ereignisse liegen sollte. Denn unwillkürlich wird das Gefühl
des Unmuths, mit dem wir das alte Reich verfallen und die deutschen Dinge
immer verderblichere Bahnen einschlagen sehen, heute durch das Bewußtsein
gemildert, daß die politische Kraft der Nation dadurch nicht gebrochen worden
ist, daß sie sich nach langem Umherirren doch auf einen zum Ziele der poli¬
tischen Einheit, wenn auch in loserer Form als bei anderen Nationen führenden
Weg gefunden hat. So gesellt sich zu der gesteigerten Lebhaftigkeit des Na¬
tionalgefühls doch eine gesättigte Ruhe, und die Zeit erleichtert es einem .Ge¬
schichtschreiber Deutschlands die Stimmung zu finden, die allein seinem Werke
zugänglich ist, und die es zugleich seinem Publikum sympathisch macht.
Freilich einen Erfolg, wie ihn Gtesebrecht, Raumer, Ranke, Hauffer für ihre
die Hauptepochen der deutschen Geschichte beschreibenden Werke erzielt haben.
Wird sich nicht von vornherein der Darstellung jedes Zeitraums vorhersagen
^- aber auch nicht absprechen lassen; es kommt eben, wenn das Werk sonst
an die Höhe der Geschichtschreibung heranragt, erst auf die Probe an. Denn
auch die Zeiten, die keinen Kaiser Otto und keinen Luther hervorgebracht
haben, sind voller Leben, und es ist auch nicht reizlos dem Regen der Kräfte
und Gedanken nachzugehen, wo sie sich in keiner großen Gestalt verkörpern,
sondern im wirren Durcheinander kleinerer Geister verzehren. Die Zeiten
des 14. und Is. Jahrhunderts sind ganz besonders dieser Art, und es ist
daher mit Freude das Werk des Breslauer Professors Theodor Lindner
Zu begrüßen, der uns eine „Geschichte des deutschen Reiches vom
Ende des 14. Jahrhunderts an bis zur Reformation*) verspricht,
und diese soeben mit dem die Hälfte der Regierung des Königs Wenzel um¬
fassenden ersten Bande eröffnet hat.

Der Verfasser bekennt selbst in der Vorrede: „Vielleicht wäre es ange¬
messener gewesen, mit der Regierung Karl's IV. zu beginnen." Gewiß wäre
es das gewesen. Schon allein die Gründung der Luxemburgischen Großmacht
>in Osten des Reichs auf halb slawischen Boden ist für das Verhältniß von
Kaiser und Reich von schwerwiegender Bedeutung geworden, da der Thron
fast ein Jahrhundert in dieser Familie verblieb. Jenes in der Habsburgischen
Periode immer mehr wachsende Uebel. daß die Interessen des Kaiserhauses



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[0315] Line neue Heschichte des deutschen Kelches. Es will scheinen, als ob die wissenschaftliche Geschichtschreibung in Deutsch¬ land von den großen Ereignissen unserer Zeit weniger Antrieb zur Darstellung auch ferner liegender Perioden der Reichsgeschichte erhalten hat, als es doch in der Natur dieser einen so langen Zeitraum unserer politischen Entwicklung abschließenden Ereignisse liegen sollte. Denn unwillkürlich wird das Gefühl des Unmuths, mit dem wir das alte Reich verfallen und die deutschen Dinge immer verderblichere Bahnen einschlagen sehen, heute durch das Bewußtsein gemildert, daß die politische Kraft der Nation dadurch nicht gebrochen worden ist, daß sie sich nach langem Umherirren doch auf einen zum Ziele der poli¬ tischen Einheit, wenn auch in loserer Form als bei anderen Nationen führenden Weg gefunden hat. So gesellt sich zu der gesteigerten Lebhaftigkeit des Na¬ tionalgefühls doch eine gesättigte Ruhe, und die Zeit erleichtert es einem .Ge¬ schichtschreiber Deutschlands die Stimmung zu finden, die allein seinem Werke zugänglich ist, und die es zugleich seinem Publikum sympathisch macht. Freilich einen Erfolg, wie ihn Gtesebrecht, Raumer, Ranke, Hauffer für ihre die Hauptepochen der deutschen Geschichte beschreibenden Werke erzielt haben. Wird sich nicht von vornherein der Darstellung jedes Zeitraums vorhersagen ^- aber auch nicht absprechen lassen; es kommt eben, wenn das Werk sonst an die Höhe der Geschichtschreibung heranragt, erst auf die Probe an. Denn auch die Zeiten, die keinen Kaiser Otto und keinen Luther hervorgebracht haben, sind voller Leben, und es ist auch nicht reizlos dem Regen der Kräfte und Gedanken nachzugehen, wo sie sich in keiner großen Gestalt verkörpern, sondern im wirren Durcheinander kleinerer Geister verzehren. Die Zeiten des 14. und Is. Jahrhunderts sind ganz besonders dieser Art, und es ist daher mit Freude das Werk des Breslauer Professors Theodor Lindner Zu begrüßen, der uns eine „Geschichte des deutschen Reiches vom Ende des 14. Jahrhunderts an bis zur Reformation*) verspricht, und diese soeben mit dem die Hälfte der Regierung des Königs Wenzel um¬ fassenden ersten Bande eröffnet hat. Der Verfasser bekennt selbst in der Vorrede: „Vielleicht wäre es ange¬ messener gewesen, mit der Regierung Karl's IV. zu beginnen." Gewiß wäre es das gewesen. Schon allein die Gründung der Luxemburgischen Großmacht >in Osten des Reichs auf halb slawischen Boden ist für das Verhältniß von Kaiser und Reich von schwerwiegender Bedeutung geworden, da der Thron fast ein Jahrhundert in dieser Familie verblieb. Jenes in der Habsburgischen Periode immer mehr wachsende Uebel. daß die Interessen des Kaiserhauses ") Braunschweig. C, A. Schwetsche K Sohn (Brcchn) 1875.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/315>, abgerufen am 23.07.2024.