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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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andere als Untersee (oder Zellersee) bezeichnet wird. Auf diesen Armen ruhen
die beiden wunderbar schönen Inseln Mairan und Reichen"", an denen wir
landen wollen, sobald wir die Wanderung durch Constanz beendet.

Freilich erging es der Stadt nicht anders als Lindau und so vielen
Städten des alten Reiches; ihre Bevölkerungszahl und ihre Bedeutung für
das Ganze ging in kolossaler Weise zurück und an die Stelle der historischen
Mission trat der Beruf für einen engeren bescheideneren Kreis den Mittelpunkt
zu bilden.

Mit solchem Maßstab muß jetzt ihr Wesen und ihr Verdienst gemessen
werden. dann aber läßt sich getrost behaupten, daß Constanz in vorderster
Reihe steht. Seine 10.000 Bewohner holen an geistiger Freiheit nach, was seine
40.000 versäumten; denn so zahlreich war die Bevölkerung während des be¬
rühmten Concils, das seine Thaten mit dem Tod des großen Huß. statt mit
der Reinigung der geistlichen Sitten krönte.

Die Gründung der Stadt reicht weit zurück bis auf die Alemannen¬
kämpfe des Kaisers Constantius. der kolossale Unterbau des damaligen
Kastells ward noch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gesunden, als die
Schweden dort ihre Schanzen gruben.

Schon frühe begann ihre Blüthe und damit ihre historische Bedeutung
für das ungeheure Reich, denn fast alle deutschen Fürsten bis auf die Stauffen
herab zogen durch ihr Thor und lohnten ihre Gastfreundschaft mit reichen
Ehren. Als Karl der Große nach Rom zog. um dort die Kaiserkrone zu
holen, hielt er mit Hildegard in Constanz Rast und nicht selten begingen
die deutschen Könige hier das Weihnachtsfest oder die Ostern. Glänzende
Fürstentage wurden gehalten. an denen die Großen des Reiches sich um ihr
Haupt versammelten: in Constanz war es, wo die Gesandten von Mailand
vor Barbarossa traten, wo er die goldenen Schlüssel empfing, die ihm die
italienischen Städte als Zeichen der Unterwerfung gesendet.

Aber all die Pracht. die man dabei zur Schau trug, verschwindet neben
jenem Schauspiel sinnlicher und sündiger Prachtentfaltung, das unter dem
Namen eines heiligen Conziles zu Constanz bekannt ist.

Es war im Jahre 1414; der wilde Geist des Uebermuthes, der Trägheit
und Sittenlosigkeit war verwüstend in den großen Bau der römischen Kirche
eingedrungen. In den Klöstern sang man Minnelieder und jeder Streit mit
den geistlichen Nachbarn ward mit der Faust auf offener Straße ausgekämpft;
es hatte einen Abt von Reichenau gegeben, der mit seinem ganzen Kapitel
nicht einmal schreiben konnte. An der Spitze dieses wilden Treibens aber
standen die Gegenpäpste, die sich wechselseitig befehdeten. Johann XXIII.,
Benedikt XIII. und Gregor Xll.; niemand wußte mehr, wer Herr und Diener


Grenzboten I. 1875. 38

andere als Untersee (oder Zellersee) bezeichnet wird. Auf diesen Armen ruhen
die beiden wunderbar schönen Inseln Mairan und Reichen«», an denen wir
landen wollen, sobald wir die Wanderung durch Constanz beendet.

Freilich erging es der Stadt nicht anders als Lindau und so vielen
Städten des alten Reiches; ihre Bevölkerungszahl und ihre Bedeutung für
das Ganze ging in kolossaler Weise zurück und an die Stelle der historischen
Mission trat der Beruf für einen engeren bescheideneren Kreis den Mittelpunkt
zu bilden.

Mit solchem Maßstab muß jetzt ihr Wesen und ihr Verdienst gemessen
werden. dann aber läßt sich getrost behaupten, daß Constanz in vorderster
Reihe steht. Seine 10.000 Bewohner holen an geistiger Freiheit nach, was seine
40.000 versäumten; denn so zahlreich war die Bevölkerung während des be¬
rühmten Concils, das seine Thaten mit dem Tod des großen Huß. statt mit
der Reinigung der geistlichen Sitten krönte.

Die Gründung der Stadt reicht weit zurück bis auf die Alemannen¬
kämpfe des Kaisers Constantius. der kolossale Unterbau des damaligen
Kastells ward noch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gesunden, als die
Schweden dort ihre Schanzen gruben.

Schon frühe begann ihre Blüthe und damit ihre historische Bedeutung
für das ungeheure Reich, denn fast alle deutschen Fürsten bis auf die Stauffen
herab zogen durch ihr Thor und lohnten ihre Gastfreundschaft mit reichen
Ehren. Als Karl der Große nach Rom zog. um dort die Kaiserkrone zu
holen, hielt er mit Hildegard in Constanz Rast und nicht selten begingen
die deutschen Könige hier das Weihnachtsfest oder die Ostern. Glänzende
Fürstentage wurden gehalten. an denen die Großen des Reiches sich um ihr
Haupt versammelten: in Constanz war es, wo die Gesandten von Mailand
vor Barbarossa traten, wo er die goldenen Schlüssel empfing, die ihm die
italienischen Städte als Zeichen der Unterwerfung gesendet.

Aber all die Pracht. die man dabei zur Schau trug, verschwindet neben
jenem Schauspiel sinnlicher und sündiger Prachtentfaltung, das unter dem
Namen eines heiligen Conziles zu Constanz bekannt ist.

Es war im Jahre 1414; der wilde Geist des Uebermuthes, der Trägheit
und Sittenlosigkeit war verwüstend in den großen Bau der römischen Kirche
eingedrungen. In den Klöstern sang man Minnelieder und jeder Streit mit
den geistlichen Nachbarn ward mit der Faust auf offener Straße ausgekämpft;
es hatte einen Abt von Reichenau gegeben, der mit seinem ganzen Kapitel
nicht einmal schreiben konnte. An der Spitze dieses wilden Treibens aber
standen die Gegenpäpste, die sich wechselseitig befehdeten. Johann XXIII.,
Benedikt XIII. und Gregor Xll.; niemand wußte mehr, wer Herr und Diener


Grenzboten I. 1875. 38
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[0305] andere als Untersee (oder Zellersee) bezeichnet wird. Auf diesen Armen ruhen die beiden wunderbar schönen Inseln Mairan und Reichen«», an denen wir landen wollen, sobald wir die Wanderung durch Constanz beendet. Freilich erging es der Stadt nicht anders als Lindau und so vielen Städten des alten Reiches; ihre Bevölkerungszahl und ihre Bedeutung für das Ganze ging in kolossaler Weise zurück und an die Stelle der historischen Mission trat der Beruf für einen engeren bescheideneren Kreis den Mittelpunkt zu bilden. Mit solchem Maßstab muß jetzt ihr Wesen und ihr Verdienst gemessen werden. dann aber läßt sich getrost behaupten, daß Constanz in vorderster Reihe steht. Seine 10.000 Bewohner holen an geistiger Freiheit nach, was seine 40.000 versäumten; denn so zahlreich war die Bevölkerung während des be¬ rühmten Concils, das seine Thaten mit dem Tod des großen Huß. statt mit der Reinigung der geistlichen Sitten krönte. Die Gründung der Stadt reicht weit zurück bis auf die Alemannen¬ kämpfe des Kaisers Constantius. der kolossale Unterbau des damaligen Kastells ward noch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gesunden, als die Schweden dort ihre Schanzen gruben. Schon frühe begann ihre Blüthe und damit ihre historische Bedeutung für das ungeheure Reich, denn fast alle deutschen Fürsten bis auf die Stauffen herab zogen durch ihr Thor und lohnten ihre Gastfreundschaft mit reichen Ehren. Als Karl der Große nach Rom zog. um dort die Kaiserkrone zu holen, hielt er mit Hildegard in Constanz Rast und nicht selten begingen die deutschen Könige hier das Weihnachtsfest oder die Ostern. Glänzende Fürstentage wurden gehalten. an denen die Großen des Reiches sich um ihr Haupt versammelten: in Constanz war es, wo die Gesandten von Mailand vor Barbarossa traten, wo er die goldenen Schlüssel empfing, die ihm die italienischen Städte als Zeichen der Unterwerfung gesendet. Aber all die Pracht. die man dabei zur Schau trug, verschwindet neben jenem Schauspiel sinnlicher und sündiger Prachtentfaltung, das unter dem Namen eines heiligen Conziles zu Constanz bekannt ist. Es war im Jahre 1414; der wilde Geist des Uebermuthes, der Trägheit und Sittenlosigkeit war verwüstend in den großen Bau der römischen Kirche eingedrungen. In den Klöstern sang man Minnelieder und jeder Streit mit den geistlichen Nachbarn ward mit der Faust auf offener Straße ausgekämpft; es hatte einen Abt von Reichenau gegeben, der mit seinem ganzen Kapitel nicht einmal schreiben konnte. An der Spitze dieses wilden Treibens aber standen die Gegenpäpste, die sich wechselseitig befehdeten. Johann XXIII., Benedikt XIII. und Gregor Xll.; niemand wußte mehr, wer Herr und Diener Grenzboten I. 1875. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/305>, abgerufen am 23.07.2024.