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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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vernehmen (Vernunft), seine Vollkommenheit zu empfinden und seinen Willen
(das Gute) zu thun, nach rechter Bildung des Geistes, Herzens und Gewissens,
Mir sagen, so gewiß man den theoretischen und praktischen Atheismus unter¬
scheiden muß, nur Mangel an Bildung, oder auch nur Folge einseitiger Bildung
ist der Materialismus und der mit ihm sich rechtfertigende Socialismus, ob¬
wohl dieser die Theorie nur zur Beschönigung der Fleischeslust herbeizieht.

Aber auch die kranke einseitige Philosophie ist nur Mangel an Bildung,
weil sie in einseitigem Cultus des sog. Denkens, d. h. selbstgemachter Axiome,
als sicherer Principien, die religiös-sittlichen Factoren des menschlichen Wesens,
das Gewissen und die teleologische Betrachtung der Erscheinungswelt, die für
alles gesunde Denken auf einen weisen Schöpfer hinzeigt, nicht zu ihrem
Rechte kommen läßt. Wir brauchen nicht erst zu erwähnen, daß der gewöhn¬
liche Materialismus der ordinären nur sog. Naturforscher auch nur Mangel
an Bildung ist, Mangel sogar an Ausbildung der Vernunft, weil Vernunft
gar nichts Anderes ist, als das Vermögen, Gott und die von ihm geschaffene
und (im Gebiete der Freiheit) gewollte Ordnung zu vernehmen. Aber auch
dieses Vermögen will und muß gebildet werden, und die Vernunft wächst
keinesweges dem Menschen von selbst an, wie Arme und Beine, worin wohl
die Erklärung gefunden werden kann, warum sie den Materialisten und
Darwinisten, die nur ein Anwachsen aus blindem Triebe zulassen, fehlt.

Etwas anders liegt es wohl mit der päpstlichen Hierarchie, wenigstens
in ihren Spitzen und den jesuitischen Fälschern des Christenthums, bei denen
dahin gestellt bleiben mag, wie weit mit Bewußtsein, Herrschsucht, Selbstsucht
der Hauptfactor ist.

Aber bei der großen Masse, die sich ihr unterwirft, ist ja nur Mangel
an Bildung, wozu freilich nun ein anderer Hauptfactor, der Parteifanatismus
tritt, das den Ausschlag gebende Moment. Für ein Räthsel aber, soweit es
sich nicht aus den beiden eben genannten Factoren erklärt, müssen wir die
Erscheinung erklären, daß sittlich und wissenschaftlich gebildete Männer, wie
sie doch im sog. Centrum des deutschen Reichstags sich finden, nur das Papst¬
thum überhaupt noch für einen wesentlichen Charakter des Katholicismus
halten, es noch zu vertheidigen wagen, geschweige die so unkluge als frevel¬
hafte Ueberspannung mit der angeblichen Jnfallibilität, und seinen An¬
maßungen gegen andere Confessionen, ja den Staat selbst. Sie müssen als
wissenschaftlich gebildete Männer wissen, daß es überhaupt mehr als zweifel¬
haft ist, ob Petrus je nach Rom kam, aber ganz zweifellos, daß, wenn die
Stelle Matth. 16, 19 im Sinne Roms zu verstehen wäre, sie durch Matth.
18, 18 und Joh. 20, 23 nur im Sinne des Episcopalsystems gegen die Jn¬
fallibilität zeugte, daß Petrus aber überhaupt nie Bischof in Rom
gewesen ist, und seine vermeintlichen Vorrechte, wie sie es auch ihrer Natur


vernehmen (Vernunft), seine Vollkommenheit zu empfinden und seinen Willen
(das Gute) zu thun, nach rechter Bildung des Geistes, Herzens und Gewissens,
Mir sagen, so gewiß man den theoretischen und praktischen Atheismus unter¬
scheiden muß, nur Mangel an Bildung, oder auch nur Folge einseitiger Bildung
ist der Materialismus und der mit ihm sich rechtfertigende Socialismus, ob¬
wohl dieser die Theorie nur zur Beschönigung der Fleischeslust herbeizieht.

Aber auch die kranke einseitige Philosophie ist nur Mangel an Bildung,
weil sie in einseitigem Cultus des sog. Denkens, d. h. selbstgemachter Axiome,
als sicherer Principien, die religiös-sittlichen Factoren des menschlichen Wesens,
das Gewissen und die teleologische Betrachtung der Erscheinungswelt, die für
alles gesunde Denken auf einen weisen Schöpfer hinzeigt, nicht zu ihrem
Rechte kommen läßt. Wir brauchen nicht erst zu erwähnen, daß der gewöhn¬
liche Materialismus der ordinären nur sog. Naturforscher auch nur Mangel
an Bildung ist, Mangel sogar an Ausbildung der Vernunft, weil Vernunft
gar nichts Anderes ist, als das Vermögen, Gott und die von ihm geschaffene
und (im Gebiete der Freiheit) gewollte Ordnung zu vernehmen. Aber auch
dieses Vermögen will und muß gebildet werden, und die Vernunft wächst
keinesweges dem Menschen von selbst an, wie Arme und Beine, worin wohl
die Erklärung gefunden werden kann, warum sie den Materialisten und
Darwinisten, die nur ein Anwachsen aus blindem Triebe zulassen, fehlt.

Etwas anders liegt es wohl mit der päpstlichen Hierarchie, wenigstens
in ihren Spitzen und den jesuitischen Fälschern des Christenthums, bei denen
dahin gestellt bleiben mag, wie weit mit Bewußtsein, Herrschsucht, Selbstsucht
der Hauptfactor ist.

Aber bei der großen Masse, die sich ihr unterwirft, ist ja nur Mangel
an Bildung, wozu freilich nun ein anderer Hauptfactor, der Parteifanatismus
tritt, das den Ausschlag gebende Moment. Für ein Räthsel aber, soweit es
sich nicht aus den beiden eben genannten Factoren erklärt, müssen wir die
Erscheinung erklären, daß sittlich und wissenschaftlich gebildete Männer, wie
sie doch im sog. Centrum des deutschen Reichstags sich finden, nur das Papst¬
thum überhaupt noch für einen wesentlichen Charakter des Katholicismus
halten, es noch zu vertheidigen wagen, geschweige die so unkluge als frevel¬
hafte Ueberspannung mit der angeblichen Jnfallibilität, und seinen An¬
maßungen gegen andere Confessionen, ja den Staat selbst. Sie müssen als
wissenschaftlich gebildete Männer wissen, daß es überhaupt mehr als zweifel¬
haft ist, ob Petrus je nach Rom kam, aber ganz zweifellos, daß, wenn die
Stelle Matth. 16, 19 im Sinne Roms zu verstehen wäre, sie durch Matth.
18, 18 und Joh. 20, 23 nur im Sinne des Episcopalsystems gegen die Jn¬
fallibilität zeugte, daß Petrus aber überhaupt nie Bischof in Rom
gewesen ist, und seine vermeintlichen Vorrechte, wie sie es auch ihrer Natur


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[0293] vernehmen (Vernunft), seine Vollkommenheit zu empfinden und seinen Willen (das Gute) zu thun, nach rechter Bildung des Geistes, Herzens und Gewissens, Mir sagen, so gewiß man den theoretischen und praktischen Atheismus unter¬ scheiden muß, nur Mangel an Bildung, oder auch nur Folge einseitiger Bildung ist der Materialismus und der mit ihm sich rechtfertigende Socialismus, ob¬ wohl dieser die Theorie nur zur Beschönigung der Fleischeslust herbeizieht. Aber auch die kranke einseitige Philosophie ist nur Mangel an Bildung, weil sie in einseitigem Cultus des sog. Denkens, d. h. selbstgemachter Axiome, als sicherer Principien, die religiös-sittlichen Factoren des menschlichen Wesens, das Gewissen und die teleologische Betrachtung der Erscheinungswelt, die für alles gesunde Denken auf einen weisen Schöpfer hinzeigt, nicht zu ihrem Rechte kommen läßt. Wir brauchen nicht erst zu erwähnen, daß der gewöhn¬ liche Materialismus der ordinären nur sog. Naturforscher auch nur Mangel an Bildung ist, Mangel sogar an Ausbildung der Vernunft, weil Vernunft gar nichts Anderes ist, als das Vermögen, Gott und die von ihm geschaffene und (im Gebiete der Freiheit) gewollte Ordnung zu vernehmen. Aber auch dieses Vermögen will und muß gebildet werden, und die Vernunft wächst keinesweges dem Menschen von selbst an, wie Arme und Beine, worin wohl die Erklärung gefunden werden kann, warum sie den Materialisten und Darwinisten, die nur ein Anwachsen aus blindem Triebe zulassen, fehlt. Etwas anders liegt es wohl mit der päpstlichen Hierarchie, wenigstens in ihren Spitzen und den jesuitischen Fälschern des Christenthums, bei denen dahin gestellt bleiben mag, wie weit mit Bewußtsein, Herrschsucht, Selbstsucht der Hauptfactor ist. Aber bei der großen Masse, die sich ihr unterwirft, ist ja nur Mangel an Bildung, wozu freilich nun ein anderer Hauptfactor, der Parteifanatismus tritt, das den Ausschlag gebende Moment. Für ein Räthsel aber, soweit es sich nicht aus den beiden eben genannten Factoren erklärt, müssen wir die Erscheinung erklären, daß sittlich und wissenschaftlich gebildete Männer, wie sie doch im sog. Centrum des deutschen Reichstags sich finden, nur das Papst¬ thum überhaupt noch für einen wesentlichen Charakter des Katholicismus halten, es noch zu vertheidigen wagen, geschweige die so unkluge als frevel¬ hafte Ueberspannung mit der angeblichen Jnfallibilität, und seinen An¬ maßungen gegen andere Confessionen, ja den Staat selbst. Sie müssen als wissenschaftlich gebildete Männer wissen, daß es überhaupt mehr als zweifel¬ haft ist, ob Petrus je nach Rom kam, aber ganz zweifellos, daß, wenn die Stelle Matth. 16, 19 im Sinne Roms zu verstehen wäre, sie durch Matth. 18, 18 und Joh. 20, 23 nur im Sinne des Episcopalsystems gegen die Jn¬ fallibilität zeugte, daß Petrus aber überhaupt nie Bischof in Rom gewesen ist, und seine vermeintlichen Vorrechte, wie sie es auch ihrer Natur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/293>, abgerufen am 23.07.2024.