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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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für einen Geschichtsschreiber halten wollen. Wohl giebt es noch Geschichts-
forscher, die nicht Geschichtsschreiber zu sein vermögen, aber einer Geschichts¬
schreibung, die nicht auch Geschichtsforschung wäre, erkennen wir heute keine
Berechtigung zu. Das eben gilt uns als einer der erfreulichsten Fortschritte,
daß die wissenschaftliche und gelehrte Vorarbeit als unzertrennliche Bedingung
von dem Geschichtsschreiber gefordert wird.

Wenn wir die Anfänge unserer heutigen Geschichtswissenschaft aufsuchen
wollen, werden wir auf die große geistige und literarische Bewegung im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zurückzugehen haben. Durch den
Aufschwung unserer Nationalliteratur überhaupt wurde einerseits das Publi¬
kum empfänglich gemacht für historische Darstellungen, andrerseits auch das
Bedürfniß nach denselben hervorgelockt. Die Historiker meinten sich jetzt nicht
allein an ihre Fachkreise theologischer oder juristischer Färbung, sondern viel¬
mehr an die ganze Nation wenden zu müssen.

Man suchte den historischen Stoff nicht nur in schöner kunstvoller Form
darzureichen; nein man empfand die Nothwendigkeit mit philosophischen Ideen
ihn zu durchdringen. Die Muster der Engländer Hume, Gibbon und
Robertson, der Franzosen Voltaire, Montesquieu und Raynal
regten in Deutschland zur Nachahmung an. Lessing und Herder und
Schiller wirkten mit ihren geschichtsphilosophischen Ideen auch auf die
eigentliche Geschichtsschreibung ein: Schlözer und Spittler und Möser
und Johannes von Müller, wie verschieden sie unter sich sein mochten,
waren alle von dem Streben getragen, literarische Lorbeeren zu ernten.

Ehe aber aus diesen Anfängen eine wirkliche Geschichtswissenschaft her¬
vorgehen konnte, mußten die literarischen und philosophischen Tendenzen sich
mit der ernsten Forschung jedenfalls enger verbinden, als es bis dahin der
Fall war. Mag man den Einfluß der nationalen und politischen Erregung
des Zeitalters der Freiheitskriege und der nächsten Folgezeit auch noch so
hoch anschlagen -- das nationale Pathos und die vaterländische Gesinnung
unserer Historiker stammen aus jener Epoche, jene Eigenschaften also die wir
heute als absolut nothwendige bezeichnen -- darin beruht das Hauptmoment
der Entwickelung doch nicht. Erst aus der Ehe der historischen Kunst mit der
historischen Kritik ist die neue historische Wissenschaft entsprossen.

Kritische Forschung ist das entscheidende Merkmal der neueren deutschen
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Es ist bekannt, wie von dem
Vater der neueren Alterthumswissenschaft, von F. A. Wolf unser großer
Historiker Niebuhr Anregung und Anleitung zu seinen kritischen Prinzipien
erhalten, wie von Niebuhr darauf Ranke die kritische Methode übernommen
und das, was man aus dem Felde des Alterthums gelernt, aus mittlere und
neuere Geschichte übertragen und hier zu festen Gesetzen entwickelt und aus-


für einen Geschichtsschreiber halten wollen. Wohl giebt es noch Geschichts-
forscher, die nicht Geschichtsschreiber zu sein vermögen, aber einer Geschichts¬
schreibung, die nicht auch Geschichtsforschung wäre, erkennen wir heute keine
Berechtigung zu. Das eben gilt uns als einer der erfreulichsten Fortschritte,
daß die wissenschaftliche und gelehrte Vorarbeit als unzertrennliche Bedingung
von dem Geschichtsschreiber gefordert wird.

Wenn wir die Anfänge unserer heutigen Geschichtswissenschaft aufsuchen
wollen, werden wir auf die große geistige und literarische Bewegung im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zurückzugehen haben. Durch den
Aufschwung unserer Nationalliteratur überhaupt wurde einerseits das Publi¬
kum empfänglich gemacht für historische Darstellungen, andrerseits auch das
Bedürfniß nach denselben hervorgelockt. Die Historiker meinten sich jetzt nicht
allein an ihre Fachkreise theologischer oder juristischer Färbung, sondern viel¬
mehr an die ganze Nation wenden zu müssen.

Man suchte den historischen Stoff nicht nur in schöner kunstvoller Form
darzureichen; nein man empfand die Nothwendigkeit mit philosophischen Ideen
ihn zu durchdringen. Die Muster der Engländer Hume, Gibbon und
Robertson, der Franzosen Voltaire, Montesquieu und Raynal
regten in Deutschland zur Nachahmung an. Lessing und Herder und
Schiller wirkten mit ihren geschichtsphilosophischen Ideen auch auf die
eigentliche Geschichtsschreibung ein: Schlözer und Spittler und Möser
und Johannes von Müller, wie verschieden sie unter sich sein mochten,
waren alle von dem Streben getragen, literarische Lorbeeren zu ernten.

Ehe aber aus diesen Anfängen eine wirkliche Geschichtswissenschaft her¬
vorgehen konnte, mußten die literarischen und philosophischen Tendenzen sich
mit der ernsten Forschung jedenfalls enger verbinden, als es bis dahin der
Fall war. Mag man den Einfluß der nationalen und politischen Erregung
des Zeitalters der Freiheitskriege und der nächsten Folgezeit auch noch so
hoch anschlagen — das nationale Pathos und die vaterländische Gesinnung
unserer Historiker stammen aus jener Epoche, jene Eigenschaften also die wir
heute als absolut nothwendige bezeichnen — darin beruht das Hauptmoment
der Entwickelung doch nicht. Erst aus der Ehe der historischen Kunst mit der
historischen Kritik ist die neue historische Wissenschaft entsprossen.

Kritische Forschung ist das entscheidende Merkmal der neueren deutschen
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Es ist bekannt, wie von dem
Vater der neueren Alterthumswissenschaft, von F. A. Wolf unser großer
Historiker Niebuhr Anregung und Anleitung zu seinen kritischen Prinzipien
erhalten, wie von Niebuhr darauf Ranke die kritische Methode übernommen
und das, was man aus dem Felde des Alterthums gelernt, aus mittlere und
neuere Geschichte übertragen und hier zu festen Gesetzen entwickelt und aus-


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[0029] für einen Geschichtsschreiber halten wollen. Wohl giebt es noch Geschichts- forscher, die nicht Geschichtsschreiber zu sein vermögen, aber einer Geschichts¬ schreibung, die nicht auch Geschichtsforschung wäre, erkennen wir heute keine Berechtigung zu. Das eben gilt uns als einer der erfreulichsten Fortschritte, daß die wissenschaftliche und gelehrte Vorarbeit als unzertrennliche Bedingung von dem Geschichtsschreiber gefordert wird. Wenn wir die Anfänge unserer heutigen Geschichtswissenschaft aufsuchen wollen, werden wir auf die große geistige und literarische Bewegung im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zurückzugehen haben. Durch den Aufschwung unserer Nationalliteratur überhaupt wurde einerseits das Publi¬ kum empfänglich gemacht für historische Darstellungen, andrerseits auch das Bedürfniß nach denselben hervorgelockt. Die Historiker meinten sich jetzt nicht allein an ihre Fachkreise theologischer oder juristischer Färbung, sondern viel¬ mehr an die ganze Nation wenden zu müssen. Man suchte den historischen Stoff nicht nur in schöner kunstvoller Form darzureichen; nein man empfand die Nothwendigkeit mit philosophischen Ideen ihn zu durchdringen. Die Muster der Engländer Hume, Gibbon und Robertson, der Franzosen Voltaire, Montesquieu und Raynal regten in Deutschland zur Nachahmung an. Lessing und Herder und Schiller wirkten mit ihren geschichtsphilosophischen Ideen auch auf die eigentliche Geschichtsschreibung ein: Schlözer und Spittler und Möser und Johannes von Müller, wie verschieden sie unter sich sein mochten, waren alle von dem Streben getragen, literarische Lorbeeren zu ernten. Ehe aber aus diesen Anfängen eine wirkliche Geschichtswissenschaft her¬ vorgehen konnte, mußten die literarischen und philosophischen Tendenzen sich mit der ernsten Forschung jedenfalls enger verbinden, als es bis dahin der Fall war. Mag man den Einfluß der nationalen und politischen Erregung des Zeitalters der Freiheitskriege und der nächsten Folgezeit auch noch so hoch anschlagen — das nationale Pathos und die vaterländische Gesinnung unserer Historiker stammen aus jener Epoche, jene Eigenschaften also die wir heute als absolut nothwendige bezeichnen — darin beruht das Hauptmoment der Entwickelung doch nicht. Erst aus der Ehe der historischen Kunst mit der historischen Kritik ist die neue historische Wissenschaft entsprossen. Kritische Forschung ist das entscheidende Merkmal der neueren deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Es ist bekannt, wie von dem Vater der neueren Alterthumswissenschaft, von F. A. Wolf unser großer Historiker Niebuhr Anregung und Anleitung zu seinen kritischen Prinzipien erhalten, wie von Niebuhr darauf Ranke die kritische Methode übernommen und das, was man aus dem Felde des Alterthums gelernt, aus mittlere und neuere Geschichte übertragen und hier zu festen Gesetzen entwickelt und aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/29>, abgerufen am 03.07.2024.