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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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wechselnd vom Oberpräsidenten und vom Borsitzenden der Provinzialversamm-
lung geführt wird. Außerdem kann die Provinzialversammlung für gewisse
Verwaltungszwccke Provinzialcommissionen unter dem Landesdirector bilden.
Ueber dem Allen stehen die einzelnen Ministerien und das Gesammtmtniste-
rium. Nun sage man. ob es möglich gewesen wäre, noch mehr Stellen einer
unvermeidlichen Friction zu etabliren! Kaum haben wir Deutsche ein wenig
Einheit und Einfachheit in unsern Gesammtstaat gebracht, so scheint es, wollen
wir uns beeilen, in den größten Bundesstaat, der Alles einer straffen Ver¬
waltung verdankt, die constituirte Anarchie einzuführen.

Hier muß radical geholfen werden oder das Alte, unendlich Bessere er¬
halten bleiben. Wir schlagen vor, die Regierungsbezirke ganz wegfallen zu
lassen, dafür aber die Provinzen zu vermehren und kleiner zu machen. Ebenso
muß der Landesdirector weg- und seine Function dem Oberpräsidenten zufallen.
Der Oberpräsident muß allein den Vorsitz im Provinzialausschuß führen und
ähnlich, wie der Reichskanzler über den Bundesrathsausschüssen und über den
Abtheilungen des Reichskanzleramtes, über allen Provinzialbehörden stehen,
in denen er sich überall vertreten lassen kann.

Wir werden Gelegenheit haben, auf diese Ansichten wiederholt und be¬
tü--r. gründend zurückzukommen.




Ariese aus der Kaiserstadt.

Da haben wir einmal einen ächt norddeutschen Fasching! Ein Zephyr,
der unsern jugendlichen Schönen die Schminke erspart, und ein Schneegestöber
so lustig und solide, daß Einem das Herz im Leibe lacht. Mag der römische
Carneval den Frühling zur Voraussetzung haben, der fastnachtliche Mummen¬
schanz, wie ihn unsere heimathlichen Altvordern getrieben, fand meines Be-
dünkens seine richtige Staffage in einer regelrechten Winterlandschaft. Freilich
ist diese fröhliche Narrethei den modernen Geschlechtern nur der Sage nach
bekannt. Das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit einmal über die ernste Lebens¬
und Gesellschaftsordnung übermüthig hinauszusetzen, regt sich auch heute noch
in jeder kräftigen Natur; aber jene collective Ausgelassenheit, die wie von
elektrischen Funken entzündet, gleichzeitig eine ganze Bevölkerung ergriff, ist
für den protestantischen Norden auf immer dahin. Wohl müht man sich hie
und da, die alten Reminiscenzen zu neuem Leben zu erwecken, aber in Berlin


Grcnjlwtm I. l875, 35

wechselnd vom Oberpräsidenten und vom Borsitzenden der Provinzialversamm-
lung geführt wird. Außerdem kann die Provinzialversammlung für gewisse
Verwaltungszwccke Provinzialcommissionen unter dem Landesdirector bilden.
Ueber dem Allen stehen die einzelnen Ministerien und das Gesammtmtniste-
rium. Nun sage man. ob es möglich gewesen wäre, noch mehr Stellen einer
unvermeidlichen Friction zu etabliren! Kaum haben wir Deutsche ein wenig
Einheit und Einfachheit in unsern Gesammtstaat gebracht, so scheint es, wollen
wir uns beeilen, in den größten Bundesstaat, der Alles einer straffen Ver¬
waltung verdankt, die constituirte Anarchie einzuführen.

Hier muß radical geholfen werden oder das Alte, unendlich Bessere er¬
halten bleiben. Wir schlagen vor, die Regierungsbezirke ganz wegfallen zu
lassen, dafür aber die Provinzen zu vermehren und kleiner zu machen. Ebenso
muß der Landesdirector weg- und seine Function dem Oberpräsidenten zufallen.
Der Oberpräsident muß allein den Vorsitz im Provinzialausschuß führen und
ähnlich, wie der Reichskanzler über den Bundesrathsausschüssen und über den
Abtheilungen des Reichskanzleramtes, über allen Provinzialbehörden stehen,
in denen er sich überall vertreten lassen kann.

Wir werden Gelegenheit haben, auf diese Ansichten wiederholt und be¬
tü—r. gründend zurückzukommen.




Ariese aus der Kaiserstadt.

Da haben wir einmal einen ächt norddeutschen Fasching! Ein Zephyr,
der unsern jugendlichen Schönen die Schminke erspart, und ein Schneegestöber
so lustig und solide, daß Einem das Herz im Leibe lacht. Mag der römische
Carneval den Frühling zur Voraussetzung haben, der fastnachtliche Mummen¬
schanz, wie ihn unsere heimathlichen Altvordern getrieben, fand meines Be-
dünkens seine richtige Staffage in einer regelrechten Winterlandschaft. Freilich
ist diese fröhliche Narrethei den modernen Geschlechtern nur der Sage nach
bekannt. Das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit einmal über die ernste Lebens¬
und Gesellschaftsordnung übermüthig hinauszusetzen, regt sich auch heute noch
in jeder kräftigen Natur; aber jene collective Ausgelassenheit, die wie von
elektrischen Funken entzündet, gleichzeitig eine ganze Bevölkerung ergriff, ist
für den protestantischen Norden auf immer dahin. Wohl müht man sich hie
und da, die alten Reminiscenzen zu neuem Leben zu erwecken, aber in Berlin


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[0281] wechselnd vom Oberpräsidenten und vom Borsitzenden der Provinzialversamm- lung geführt wird. Außerdem kann die Provinzialversammlung für gewisse Verwaltungszwccke Provinzialcommissionen unter dem Landesdirector bilden. Ueber dem Allen stehen die einzelnen Ministerien und das Gesammtmtniste- rium. Nun sage man. ob es möglich gewesen wäre, noch mehr Stellen einer unvermeidlichen Friction zu etabliren! Kaum haben wir Deutsche ein wenig Einheit und Einfachheit in unsern Gesammtstaat gebracht, so scheint es, wollen wir uns beeilen, in den größten Bundesstaat, der Alles einer straffen Ver¬ waltung verdankt, die constituirte Anarchie einzuführen. Hier muß radical geholfen werden oder das Alte, unendlich Bessere er¬ halten bleiben. Wir schlagen vor, die Regierungsbezirke ganz wegfallen zu lassen, dafür aber die Provinzen zu vermehren und kleiner zu machen. Ebenso muß der Landesdirector weg- und seine Function dem Oberpräsidenten zufallen. Der Oberpräsident muß allein den Vorsitz im Provinzialausschuß führen und ähnlich, wie der Reichskanzler über den Bundesrathsausschüssen und über den Abtheilungen des Reichskanzleramtes, über allen Provinzialbehörden stehen, in denen er sich überall vertreten lassen kann. Wir werden Gelegenheit haben, auf diese Ansichten wiederholt und be¬ tü—r. gründend zurückzukommen. Ariese aus der Kaiserstadt. Da haben wir einmal einen ächt norddeutschen Fasching! Ein Zephyr, der unsern jugendlichen Schönen die Schminke erspart, und ein Schneegestöber so lustig und solide, daß Einem das Herz im Leibe lacht. Mag der römische Carneval den Frühling zur Voraussetzung haben, der fastnachtliche Mummen¬ schanz, wie ihn unsere heimathlichen Altvordern getrieben, fand meines Be- dünkens seine richtige Staffage in einer regelrechten Winterlandschaft. Freilich ist diese fröhliche Narrethei den modernen Geschlechtern nur der Sage nach bekannt. Das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit einmal über die ernste Lebens¬ und Gesellschaftsordnung übermüthig hinauszusetzen, regt sich auch heute noch in jeder kräftigen Natur; aber jene collective Ausgelassenheit, die wie von elektrischen Funken entzündet, gleichzeitig eine ganze Bevölkerung ergriff, ist für den protestantischen Norden auf immer dahin. Wohl müht man sich hie und da, die alten Reminiscenzen zu neuem Leben zu erwecken, aber in Berlin Grcnjlwtm I. l875, 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/281>, abgerufen am 23.07.2024.