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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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logie und etwas später die Philosophie, so ist es heute die Geschichte, die sich
der größten Aufmerksamkeit in weiteren Kreisen erfreuet und die lebendigste
Theilnahme aller derjenigen, die zu den "Gebildeten" gerechnet werden wollen,
an sich heranzieht. Höchstens die Naturwissenschaften machen ihr den Bor¬
tritt streitig; und beide, Geschichte wie Naturwissenschaften, fühlen sich von
der allgemeinen Sympathie der Zeitgenossen getragen und gefördert. ,

Die Beziehungen, welche gegenwärtig die geschichtlichen Studien zu den
Interessen des größeren Publikum behaupten, sollen hier in einer Reihe von
Bemerkungen dargelegt und besprochen werden. Es ist nicht die Absicht in
streng systematischer Entwickelung und Ordnung das Thema zu behandeln; in
freierer Weise gedenken wir vielmehr die wichtigsten Momente der Sache vor¬
zuführen und eine Charakteristik der hervorragendsten Historiker unserer Gegen¬
wart damit zu verbinden. Heute mögen einige allgemeinere Züge zur Ein¬
leitung und Einführung hervorgehoben werden.

Man hat in geistreichem Spiele oft darüber gestritten, ob die Geschichte
eher eine Wissenschaft oder eine Kunst zu nennen sei: in der That ist sie
beides; von beiden Seiten her kann die Arbeit des Historikers beleuchtet
werden. Man wird immer ein Recht haben zwischen der Thätigkeit des Ge-
schichtsforschers und des Geschichtsschreib ers zu unterscheiden. In der
Auffassung grade des Verhältnisses dieser beiden zu einander kommt eines der
ersten und wichtigsten Merkmale der neueren Geschichtswissenschaft zu Tage.

In früheren Zeiten begegnen wir häusig dem emsig 'forschenden und
suchenden Gelehrten, dem in der Tiefe des historischen Materielles vergrabenen
Arbeiter, der Stück für Stück seine Kenntnisse hervorbringt, meistens in einer
Sprache, deren Verständniß erst dem Eingeweihten sich erschließt. Und neben
ihm gewahren wir geistreiche und elegante Schriftsteller, die nicht daran denken
in jene eigentliche Arbeit sich einzulassen, die aber wohl bereit sind, das was
jene anderen gearbeitet, aufzunehmen, mit Geist zu durchdringen und in kunst¬
voller Sprache dem Leser vorzutragen. Jener Ersteren Bücher kann man
nicht lesen, man muß sie studiren: dieser Werke liest man mit Genuß:
einen Versuch aber sie zu studiren wird kaum irgend Jemand machen. Wir
erinnern daran, daß zu dieser letzten Klasse von Schriftstellern im vorigen
Jahrhundert z. B. der Engländer Hume und unter den Deutschen Schiller
gehörte, welche mit begeisterter Bewunderung gelesen zu werden pflegten.

Heute ist ein ähnliches Verhältniß undenkbar. Das erleben wir alle
Tage, daß einem Gelehrten, dem als Forscher hervorragende Verdienste verdankt
werden, Anlage und Möglichkeit einer auf Leser berechneten Darstellung
versagt zu sein scheinen. Aber den Literaten, der ohne eigentliche Studien
gemacht zu haben, historische Bücher verfertigt, wird trotz aller vielleicht glän¬
zenden Gaben der Stilistik oder Rhetorik Niemand heute mehr im Ernste


logie und etwas später die Philosophie, so ist es heute die Geschichte, die sich
der größten Aufmerksamkeit in weiteren Kreisen erfreuet und die lebendigste
Theilnahme aller derjenigen, die zu den „Gebildeten" gerechnet werden wollen,
an sich heranzieht. Höchstens die Naturwissenschaften machen ihr den Bor¬
tritt streitig; und beide, Geschichte wie Naturwissenschaften, fühlen sich von
der allgemeinen Sympathie der Zeitgenossen getragen und gefördert. ,

Die Beziehungen, welche gegenwärtig die geschichtlichen Studien zu den
Interessen des größeren Publikum behaupten, sollen hier in einer Reihe von
Bemerkungen dargelegt und besprochen werden. Es ist nicht die Absicht in
streng systematischer Entwickelung und Ordnung das Thema zu behandeln; in
freierer Weise gedenken wir vielmehr die wichtigsten Momente der Sache vor¬
zuführen und eine Charakteristik der hervorragendsten Historiker unserer Gegen¬
wart damit zu verbinden. Heute mögen einige allgemeinere Züge zur Ein¬
leitung und Einführung hervorgehoben werden.

Man hat in geistreichem Spiele oft darüber gestritten, ob die Geschichte
eher eine Wissenschaft oder eine Kunst zu nennen sei: in der That ist sie
beides; von beiden Seiten her kann die Arbeit des Historikers beleuchtet
werden. Man wird immer ein Recht haben zwischen der Thätigkeit des Ge-
schichtsforschers und des Geschichtsschreib ers zu unterscheiden. In der
Auffassung grade des Verhältnisses dieser beiden zu einander kommt eines der
ersten und wichtigsten Merkmale der neueren Geschichtswissenschaft zu Tage.

In früheren Zeiten begegnen wir häusig dem emsig 'forschenden und
suchenden Gelehrten, dem in der Tiefe des historischen Materielles vergrabenen
Arbeiter, der Stück für Stück seine Kenntnisse hervorbringt, meistens in einer
Sprache, deren Verständniß erst dem Eingeweihten sich erschließt. Und neben
ihm gewahren wir geistreiche und elegante Schriftsteller, die nicht daran denken
in jene eigentliche Arbeit sich einzulassen, die aber wohl bereit sind, das was
jene anderen gearbeitet, aufzunehmen, mit Geist zu durchdringen und in kunst¬
voller Sprache dem Leser vorzutragen. Jener Ersteren Bücher kann man
nicht lesen, man muß sie studiren: dieser Werke liest man mit Genuß:
einen Versuch aber sie zu studiren wird kaum irgend Jemand machen. Wir
erinnern daran, daß zu dieser letzten Klasse von Schriftstellern im vorigen
Jahrhundert z. B. der Engländer Hume und unter den Deutschen Schiller
gehörte, welche mit begeisterter Bewunderung gelesen zu werden pflegten.

Heute ist ein ähnliches Verhältniß undenkbar. Das erleben wir alle
Tage, daß einem Gelehrten, dem als Forscher hervorragende Verdienste verdankt
werden, Anlage und Möglichkeit einer auf Leser berechneten Darstellung
versagt zu sein scheinen. Aber den Literaten, der ohne eigentliche Studien
gemacht zu haben, historische Bücher verfertigt, wird trotz aller vielleicht glän¬
zenden Gaben der Stilistik oder Rhetorik Niemand heute mehr im Ernste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/28>, abgerufen am 23.07.2024.