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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Ja selbst in mancher deutschen Kleinstadt von 10,000 Einwohnern wird von
den kunstsinnigen Bewohnern aus eigenem Antriebe mehr geleistet, als in
großen englischen Provinzialstädten.

Wenn in New Castle upon Tyne unter dem Protektorate mehrerer Par¬
lamentsmitglieder und fremder Consuln, -- unter denen sich der deutsche
selbstverständlich nicht befand -- ein Dilletanten-Concert bewerkstelligt wird, in
dem der kräftige Applaus, der sich stets schon vor den musikalischen Produc-
tionen vernehmen läßt, die rühmenswcrrheste Leistung ist. so muß man sich
billiger Weise fragen, ob man sich wirklich in einer Stadt von 140,000 Ein¬
wohnern befinde.

Bei Vorstellungen, die für das niedere Volk bestimmt sind, pflegt in
London die charakteristische Bemerkung unter die Programme gesetzt zu wer¬
den: Kinder, die im Arm getragen werden, bezahlen eine Guinee. Da nun
>" New Castle diese Bemerkung in vollem Vertrauen auf das feine Publikum
weggelassen war, so wurde denn auch der Kunstgenuß in Folge gründlicher
Täuschung dieses Vertrauens noch wesentlich erhöht.

In Manchester, einer Stadt von beinahe einer halben Million Einwoh¬
nern, ging, von einer "berühmten" (?) italienischen Gesellschaft ausgeführt, im
ersten Theater die Oper Faust und Margarethe über die Bühne. Die Glanz¬
punkte der ganzen Aufführung waren die zwei sehr schönen falschen Zöpfe
von Gretchen, die ausgezeichnete Virtuosität, mit der Faust den vollendeten
blasirten Roue gab, und ein echtenglischer Backenbart von Mephisto, welcher
auch von einem Italiener mit dem echt romanischen Namen Giulio Perkins
gegeben wurde. Und alle diese Herrlichkeiten wurden von der feinen und
schönen Welt der reichen und großen Stadt stürmisch beklatscht; die Künstler
Waren für diese Beifallsbezeugungen auch so dankbar, Arien und Duette
mehrere Male zu wiederholen. Es erinnerte mich das lebhaft an jene Anek¬
dote von einem alten englischen naturwüchsigen Schiffscapitän, der das Ver¬
engen nach Wiederholung von Gesangsproductionen, wahrscheinlich nach seinen
Schulerinnerungen, falsch verstand, oder sollte er doch Recht gehabt haben?

Das Lärmen und Klatschen in englischen Theatern sowohl vor als auch
nach und während der Scenen gehört mit zu den unangenehmsten Erschei¬
nungen des englischen Volkslebens, besonders wenn man an das ruhige Ver¬
halten des Publikums in deutschen Hoftheatern, welches gewiß mit Recht so
entschieden aufrecht erhalten wird, gewöhnt ist. Es wird höchstens noch über¬
gössen durch die widerwärtige Reclame, die sich überall breit macht und be¬
sonders auch auf Theaterzetteln. Concertprogrammen, Operntexten und Kla-
u'erauszügen mit Text, welche zu Concerten und Opern in England an den
lassen zu haben sind und auch vielfach gekauft werden. So kann es kommen,
daß'in Mitten des Hallelujah's in Handels Messias eine Anzeige über den


Ja selbst in mancher deutschen Kleinstadt von 10,000 Einwohnern wird von
den kunstsinnigen Bewohnern aus eigenem Antriebe mehr geleistet, als in
großen englischen Provinzialstädten.

Wenn in New Castle upon Tyne unter dem Protektorate mehrerer Par¬
lamentsmitglieder und fremder Consuln, — unter denen sich der deutsche
selbstverständlich nicht befand — ein Dilletanten-Concert bewerkstelligt wird, in
dem der kräftige Applaus, der sich stets schon vor den musikalischen Produc-
tionen vernehmen läßt, die rühmenswcrrheste Leistung ist. so muß man sich
billiger Weise fragen, ob man sich wirklich in einer Stadt von 140,000 Ein¬
wohnern befinde.

Bei Vorstellungen, die für das niedere Volk bestimmt sind, pflegt in
London die charakteristische Bemerkung unter die Programme gesetzt zu wer¬
den: Kinder, die im Arm getragen werden, bezahlen eine Guinee. Da nun
>" New Castle diese Bemerkung in vollem Vertrauen auf das feine Publikum
weggelassen war, so wurde denn auch der Kunstgenuß in Folge gründlicher
Täuschung dieses Vertrauens noch wesentlich erhöht.

In Manchester, einer Stadt von beinahe einer halben Million Einwoh¬
nern, ging, von einer „berühmten" (?) italienischen Gesellschaft ausgeführt, im
ersten Theater die Oper Faust und Margarethe über die Bühne. Die Glanz¬
punkte der ganzen Aufführung waren die zwei sehr schönen falschen Zöpfe
von Gretchen, die ausgezeichnete Virtuosität, mit der Faust den vollendeten
blasirten Roue gab, und ein echtenglischer Backenbart von Mephisto, welcher
auch von einem Italiener mit dem echt romanischen Namen Giulio Perkins
gegeben wurde. Und alle diese Herrlichkeiten wurden von der feinen und
schönen Welt der reichen und großen Stadt stürmisch beklatscht; die Künstler
Waren für diese Beifallsbezeugungen auch so dankbar, Arien und Duette
mehrere Male zu wiederholen. Es erinnerte mich das lebhaft an jene Anek¬
dote von einem alten englischen naturwüchsigen Schiffscapitän, der das Ver¬
engen nach Wiederholung von Gesangsproductionen, wahrscheinlich nach seinen
Schulerinnerungen, falsch verstand, oder sollte er doch Recht gehabt haben?

Das Lärmen und Klatschen in englischen Theatern sowohl vor als auch
nach und während der Scenen gehört mit zu den unangenehmsten Erschei¬
nungen des englischen Volkslebens, besonders wenn man an das ruhige Ver¬
halten des Publikums in deutschen Hoftheatern, welches gewiß mit Recht so
entschieden aufrecht erhalten wird, gewöhnt ist. Es wird höchstens noch über¬
gössen durch die widerwärtige Reclame, die sich überall breit macht und be¬
sonders auch auf Theaterzetteln. Concertprogrammen, Operntexten und Kla-
u'erauszügen mit Text, welche zu Concerten und Opern in England an den
lassen zu haben sind und auch vielfach gekauft werden. So kann es kommen,
daß'in Mitten des Hallelujah's in Handels Messias eine Anzeige über den


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[0227] Ja selbst in mancher deutschen Kleinstadt von 10,000 Einwohnern wird von den kunstsinnigen Bewohnern aus eigenem Antriebe mehr geleistet, als in großen englischen Provinzialstädten. Wenn in New Castle upon Tyne unter dem Protektorate mehrerer Par¬ lamentsmitglieder und fremder Consuln, — unter denen sich der deutsche selbstverständlich nicht befand — ein Dilletanten-Concert bewerkstelligt wird, in dem der kräftige Applaus, der sich stets schon vor den musikalischen Produc- tionen vernehmen läßt, die rühmenswcrrheste Leistung ist. so muß man sich billiger Weise fragen, ob man sich wirklich in einer Stadt von 140,000 Ein¬ wohnern befinde. Bei Vorstellungen, die für das niedere Volk bestimmt sind, pflegt in London die charakteristische Bemerkung unter die Programme gesetzt zu wer¬ den: Kinder, die im Arm getragen werden, bezahlen eine Guinee. Da nun >" New Castle diese Bemerkung in vollem Vertrauen auf das feine Publikum weggelassen war, so wurde denn auch der Kunstgenuß in Folge gründlicher Täuschung dieses Vertrauens noch wesentlich erhöht. In Manchester, einer Stadt von beinahe einer halben Million Einwoh¬ nern, ging, von einer „berühmten" (?) italienischen Gesellschaft ausgeführt, im ersten Theater die Oper Faust und Margarethe über die Bühne. Die Glanz¬ punkte der ganzen Aufführung waren die zwei sehr schönen falschen Zöpfe von Gretchen, die ausgezeichnete Virtuosität, mit der Faust den vollendeten blasirten Roue gab, und ein echtenglischer Backenbart von Mephisto, welcher auch von einem Italiener mit dem echt romanischen Namen Giulio Perkins gegeben wurde. Und alle diese Herrlichkeiten wurden von der feinen und schönen Welt der reichen und großen Stadt stürmisch beklatscht; die Künstler Waren für diese Beifallsbezeugungen auch so dankbar, Arien und Duette mehrere Male zu wiederholen. Es erinnerte mich das lebhaft an jene Anek¬ dote von einem alten englischen naturwüchsigen Schiffscapitän, der das Ver¬ engen nach Wiederholung von Gesangsproductionen, wahrscheinlich nach seinen Schulerinnerungen, falsch verstand, oder sollte er doch Recht gehabt haben? Das Lärmen und Klatschen in englischen Theatern sowohl vor als auch nach und während der Scenen gehört mit zu den unangenehmsten Erschei¬ nungen des englischen Volkslebens, besonders wenn man an das ruhige Ver¬ halten des Publikums in deutschen Hoftheatern, welches gewiß mit Recht so entschieden aufrecht erhalten wird, gewöhnt ist. Es wird höchstens noch über¬ gössen durch die widerwärtige Reclame, die sich überall breit macht und be¬ sonders auch auf Theaterzetteln. Concertprogrammen, Operntexten und Kla- u'erauszügen mit Text, welche zu Concerten und Opern in England an den lassen zu haben sind und auch vielfach gekauft werden. So kann es kommen, daß'in Mitten des Hallelujah's in Handels Messias eine Anzeige über den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/227>, abgerufen am 23.07.2024.