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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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der Reichstag bei dieser Herabsetzung der Altersgrenze, bis zu welcher die elter¬
liche Einwilligung erforderlich ist, nicht die Consequenz gezogen, die Klage
auf richterliche Ergänzung -- eine der größten legislativen Mißgeburten -- gänz¬
lich zu beseitigen. Allerdings hat der Reichstag das Recht zur Erhebung
dieser Klage wenigstens auf die großjährigen Kinder beschränkt. Das ist et¬
was, aber nicht genug. Es ist eine erklärliche, aber nicht minder verwerfliche
Verirrung der legislativen Funktion, sich nicht an die nothwendigen einfachen
Prinzipien halten zu können, sondern womöglich für alle denkbaren Fälle
Sorge zu tragen. Aus dieser Verirrung ist das Institut der Klage auf richter¬
liche Ergänzung bei versagter elterlicher Einwilligung zur Eheschließung ent¬
standen. Dieses Institut hat aber gar keine Entschuldigung mehr, nachdem
die Altersgrenze vernünftig gezogen worden, bis zu welcher die elterliche Ein¬
willigung erfordert wird.' In Laster brach diesmal der Held "der Erlebnisse
einer Mannesseele" durch. Er wollte die Altersgrenze für die elterliche Ein¬
willigung bei Frauen auf das 21. Jahr herabgesetzt haben, weil ein zurück¬
gewiesener Heirathsantrag so oft zur gänzlichen Ehelosigkeit führe; und nach-
her stellte er sogar einen Abänderungsantrag: die versagte Einwilligung sei
vom Richter zu ergänzen, "wenn nicht Gründe geltend gemacht würden für
die Annahme, daß die Ehe unglücklich sein werde." Die pure Sentimentali¬
tät! -- Bei den Ehehindernissen wurden von Seiten des Centrums die physio¬
logischen Gründe gegen Ehen der Geschwisterkinder geltend gemacht, welches Be¬
denken der Abgeordnete Volk durch Berufung auf seine Person zurückwies in
einer Weise, die uns recht wenig mit dem guten Geschmack vereinbar schien.
Damit waren die interessanteren Jncidenzpunkte der Berathung dieses Gesetzes
erledigt, welches noch die Sitzungen vom 13. und 16. Januar in Anspruch
genommen hatte.




Am 16. Januar wurde der preußische Landtag durch den Vice-Vorsitzen-
den des Staatsministeriums eröffnet. Am wichtigsten ist die Erklärung der
Thronrede, daß der mit der Kreisordnung begonnene Neubau der inneren
Verwaltung zunächst im jetzigen Geltungsbereich der neuen Kreiöordnung zum
Abschluß gebracht werden soll. Es sollen für diesen Geltungsbereich in der
jetzigen Landtagssession vorgelegt werden: eine Provinzialordnung, ein Gesetz
über die Ausstattung der Provinzen mit eigenen Fonds, und ein Gesetzent¬
wurf über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und die Errichtung eines
Oberverwaltungsgerichts. An anderen wichtigen Gesetzvorlagen verheißt die
Thronrede,: ein Gesetz über die Verwaltung des Vermögens der katholischen
Kirchengemeinden, und die Vormundschaftsordnung, welche bereits in einer
früheren Session vorgelegt aber nicht erledigt worden. Ueber die vorläufige
Beschränkung der Verwaltungsreform auf die östlichen Provinzen, über den


der Reichstag bei dieser Herabsetzung der Altersgrenze, bis zu welcher die elter¬
liche Einwilligung erforderlich ist, nicht die Consequenz gezogen, die Klage
auf richterliche Ergänzung — eine der größten legislativen Mißgeburten — gänz¬
lich zu beseitigen. Allerdings hat der Reichstag das Recht zur Erhebung
dieser Klage wenigstens auf die großjährigen Kinder beschränkt. Das ist et¬
was, aber nicht genug. Es ist eine erklärliche, aber nicht minder verwerfliche
Verirrung der legislativen Funktion, sich nicht an die nothwendigen einfachen
Prinzipien halten zu können, sondern womöglich für alle denkbaren Fälle
Sorge zu tragen. Aus dieser Verirrung ist das Institut der Klage auf richter¬
liche Ergänzung bei versagter elterlicher Einwilligung zur Eheschließung ent¬
standen. Dieses Institut hat aber gar keine Entschuldigung mehr, nachdem
die Altersgrenze vernünftig gezogen worden, bis zu welcher die elterliche Ein¬
willigung erfordert wird.' In Laster brach diesmal der Held „der Erlebnisse
einer Mannesseele" durch. Er wollte die Altersgrenze für die elterliche Ein¬
willigung bei Frauen auf das 21. Jahr herabgesetzt haben, weil ein zurück¬
gewiesener Heirathsantrag so oft zur gänzlichen Ehelosigkeit führe; und nach-
her stellte er sogar einen Abänderungsantrag: die versagte Einwilligung sei
vom Richter zu ergänzen, „wenn nicht Gründe geltend gemacht würden für
die Annahme, daß die Ehe unglücklich sein werde." Die pure Sentimentali¬
tät! — Bei den Ehehindernissen wurden von Seiten des Centrums die physio¬
logischen Gründe gegen Ehen der Geschwisterkinder geltend gemacht, welches Be¬
denken der Abgeordnete Volk durch Berufung auf seine Person zurückwies in
einer Weise, die uns recht wenig mit dem guten Geschmack vereinbar schien.
Damit waren die interessanteren Jncidenzpunkte der Berathung dieses Gesetzes
erledigt, welches noch die Sitzungen vom 13. und 16. Januar in Anspruch
genommen hatte.




Am 16. Januar wurde der preußische Landtag durch den Vice-Vorsitzen-
den des Staatsministeriums eröffnet. Am wichtigsten ist die Erklärung der
Thronrede, daß der mit der Kreisordnung begonnene Neubau der inneren
Verwaltung zunächst im jetzigen Geltungsbereich der neuen Kreiöordnung zum
Abschluß gebracht werden soll. Es sollen für diesen Geltungsbereich in der
jetzigen Landtagssession vorgelegt werden: eine Provinzialordnung, ein Gesetz
über die Ausstattung der Provinzen mit eigenen Fonds, und ein Gesetzent¬
wurf über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und die Errichtung eines
Oberverwaltungsgerichts. An anderen wichtigen Gesetzvorlagen verheißt die
Thronrede,: ein Gesetz über die Verwaltung des Vermögens der katholischen
Kirchengemeinden, und die Vormundschaftsordnung, welche bereits in einer
früheren Session vorgelegt aber nicht erledigt worden. Ueber die vorläufige
Beschränkung der Verwaltungsreform auf die östlichen Provinzen, über den


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[0165] der Reichstag bei dieser Herabsetzung der Altersgrenze, bis zu welcher die elter¬ liche Einwilligung erforderlich ist, nicht die Consequenz gezogen, die Klage auf richterliche Ergänzung — eine der größten legislativen Mißgeburten — gänz¬ lich zu beseitigen. Allerdings hat der Reichstag das Recht zur Erhebung dieser Klage wenigstens auf die großjährigen Kinder beschränkt. Das ist et¬ was, aber nicht genug. Es ist eine erklärliche, aber nicht minder verwerfliche Verirrung der legislativen Funktion, sich nicht an die nothwendigen einfachen Prinzipien halten zu können, sondern womöglich für alle denkbaren Fälle Sorge zu tragen. Aus dieser Verirrung ist das Institut der Klage auf richter¬ liche Ergänzung bei versagter elterlicher Einwilligung zur Eheschließung ent¬ standen. Dieses Institut hat aber gar keine Entschuldigung mehr, nachdem die Altersgrenze vernünftig gezogen worden, bis zu welcher die elterliche Ein¬ willigung erfordert wird.' In Laster brach diesmal der Held „der Erlebnisse einer Mannesseele" durch. Er wollte die Altersgrenze für die elterliche Ein¬ willigung bei Frauen auf das 21. Jahr herabgesetzt haben, weil ein zurück¬ gewiesener Heirathsantrag so oft zur gänzlichen Ehelosigkeit führe; und nach- her stellte er sogar einen Abänderungsantrag: die versagte Einwilligung sei vom Richter zu ergänzen, „wenn nicht Gründe geltend gemacht würden für die Annahme, daß die Ehe unglücklich sein werde." Die pure Sentimentali¬ tät! — Bei den Ehehindernissen wurden von Seiten des Centrums die physio¬ logischen Gründe gegen Ehen der Geschwisterkinder geltend gemacht, welches Be¬ denken der Abgeordnete Volk durch Berufung auf seine Person zurückwies in einer Weise, die uns recht wenig mit dem guten Geschmack vereinbar schien. Damit waren die interessanteren Jncidenzpunkte der Berathung dieses Gesetzes erledigt, welches noch die Sitzungen vom 13. und 16. Januar in Anspruch genommen hatte. Am 16. Januar wurde der preußische Landtag durch den Vice-Vorsitzen- den des Staatsministeriums eröffnet. Am wichtigsten ist die Erklärung der Thronrede, daß der mit der Kreisordnung begonnene Neubau der inneren Verwaltung zunächst im jetzigen Geltungsbereich der neuen Kreiöordnung zum Abschluß gebracht werden soll. Es sollen für diesen Geltungsbereich in der jetzigen Landtagssession vorgelegt werden: eine Provinzialordnung, ein Gesetz über die Ausstattung der Provinzen mit eigenen Fonds, und ein Gesetzent¬ wurf über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und die Errichtung eines Oberverwaltungsgerichts. An anderen wichtigen Gesetzvorlagen verheißt die Thronrede,: ein Gesetz über die Verwaltung des Vermögens der katholischen Kirchengemeinden, und die Vormundschaftsordnung, welche bereits in einer früheren Session vorgelegt aber nicht erledigt worden. Ueber die vorläufige Beschränkung der Verwaltungsreform auf die östlichen Provinzen, über den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/165>, abgerufen am 25.08.2024.