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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Dynastie anhaftenden Schandfleck zu erblicken lernte. Dann begannen die
Bastillengefängnisse allmählich sich mit Protestanten und Jansenisten, den
vermeintlichen Todfeinden des Staates, zu füllen, und zwar dauerte diese Art
der Unterdrückung auch noch unter Ludwig dem Fünfzehnten bis auf die Tage
der Pompadour weiter. Unter der Letzteren erlebte überhaupt das Ivttrs as
caeliot-Unwesen seinen Höhepunkt. Es wurde bei Hofe und im ganzen Lande
mit der größten Schamlosigkeit geradezu eine Art Handel damit getrieben,
und es entstand, seitdem ein Blanco-Haftbefehl für 25 Louisd'or zu haben
war, ein Zustand allgemeinen gegenseitigen Mißtrauens und ein Gefühl der
Unsicherheit, das selbst unter den nächsten Verwandten, wie die Jugendge¬
schichte Mirabeau's lehrt, gerechtfertigt erschien.

Wie schon angedeutet, gehört zu den bemerkenswerthesten Erscheinungen
im öffentlichen Leben während der ersten Regierungsperiode Ludwig's des
Vierzehnten die Nichtbeachtung der Gesetze überhaupt, und namentlich polizei¬
licher Bestimmungen sowohl seitens hochgestellter Privatpersonen wie auch der
Regierungsorgane selbst. Nicht selten erlebte man auf offener Straße und am
hellen Tage blutige Raufereien und förmliche Zweikämpfe. So gemahnt unter
vielen anderen die folgende Geschichte in allen ihren Einzelheiten an das Trei¬
ben einer Zeit, wo die treues, vel der Kirche der einzige Schutz und Trost
der armen Leute des offenen Landes war. Rennes de I'Hospital, Marquis
de Choisy drangsalirte seine Bauern auf die nichtswürdigste Weise. Ein be¬
nachbarter Kaplan, ein unerschrockener Mann, tadelt seine Grausamkeiten und
Rohheit von der Kanzel herab. Der Herr Marquis erhält Kunde davon, steigt
alsbald mit zwei Gewappneten zu Roß und legt sich da, wo der Pfarrer des
Weges kommen mußte, in einen Hinterhalt. Derselbe zieht arglos in Beglei¬
tung eines Bauern vorüber. Die drei stürzen sich sofort auf den Letztern und
schlagen ihn todt, alsdann sticht der Herr den Pfarrer nieder, steigt aus dem
Bügel und zerschmettert dem Aermsten mit dem Kolben die Kinnlade. Die
Hufe der Pferde thun das Uebrige. Was geschieht, als die Sache in Paris
ruchbar geworden war? Das Parlament sperrt zwar das Scheusal in die
Bastille, am 30. Juli 1659; aber schon etliche Tage darauf kehrt der gestrenge
Herr, das Begnadigungsdocument schwarz auf weiß in der Tasche, wieder auf
sein Schloß zurück. Was in diesem Falle den König bewogen habe, von
der gewohnten Strenge abzuweichen, ist aus den Acten nicht ersichtlich; auch
steht er in seiner Art keineswegs vereinzelt da. Der Chevalier Grancey hatte
ein Fräulein sammt deren Mutter nach seinem abgelegenen Schloße in der
Normandie entführt und gab allen gerichtlichen Aufforderungen zum Trotze
weder die eine noch die andre heraus. Plötzlich stellt er sich freiwillig dem
Gouverneur der Bastille, gewissermaßen unter Allerhöchsten Schutz und erhält
alsbald in Anerkennung seiner "loyalen Unterwerfung" das Begnadigungsde-


Dynastie anhaftenden Schandfleck zu erblicken lernte. Dann begannen die
Bastillengefängnisse allmählich sich mit Protestanten und Jansenisten, den
vermeintlichen Todfeinden des Staates, zu füllen, und zwar dauerte diese Art
der Unterdrückung auch noch unter Ludwig dem Fünfzehnten bis auf die Tage
der Pompadour weiter. Unter der Letzteren erlebte überhaupt das Ivttrs as
caeliot-Unwesen seinen Höhepunkt. Es wurde bei Hofe und im ganzen Lande
mit der größten Schamlosigkeit geradezu eine Art Handel damit getrieben,
und es entstand, seitdem ein Blanco-Haftbefehl für 25 Louisd'or zu haben
war, ein Zustand allgemeinen gegenseitigen Mißtrauens und ein Gefühl der
Unsicherheit, das selbst unter den nächsten Verwandten, wie die Jugendge¬
schichte Mirabeau's lehrt, gerechtfertigt erschien.

Wie schon angedeutet, gehört zu den bemerkenswerthesten Erscheinungen
im öffentlichen Leben während der ersten Regierungsperiode Ludwig's des
Vierzehnten die Nichtbeachtung der Gesetze überhaupt, und namentlich polizei¬
licher Bestimmungen sowohl seitens hochgestellter Privatpersonen wie auch der
Regierungsorgane selbst. Nicht selten erlebte man auf offener Straße und am
hellen Tage blutige Raufereien und förmliche Zweikämpfe. So gemahnt unter
vielen anderen die folgende Geschichte in allen ihren Einzelheiten an das Trei¬
ben einer Zeit, wo die treues, vel der Kirche der einzige Schutz und Trost
der armen Leute des offenen Landes war. Rennes de I'Hospital, Marquis
de Choisy drangsalirte seine Bauern auf die nichtswürdigste Weise. Ein be¬
nachbarter Kaplan, ein unerschrockener Mann, tadelt seine Grausamkeiten und
Rohheit von der Kanzel herab. Der Herr Marquis erhält Kunde davon, steigt
alsbald mit zwei Gewappneten zu Roß und legt sich da, wo der Pfarrer des
Weges kommen mußte, in einen Hinterhalt. Derselbe zieht arglos in Beglei¬
tung eines Bauern vorüber. Die drei stürzen sich sofort auf den Letztern und
schlagen ihn todt, alsdann sticht der Herr den Pfarrer nieder, steigt aus dem
Bügel und zerschmettert dem Aermsten mit dem Kolben die Kinnlade. Die
Hufe der Pferde thun das Uebrige. Was geschieht, als die Sache in Paris
ruchbar geworden war? Das Parlament sperrt zwar das Scheusal in die
Bastille, am 30. Juli 1659; aber schon etliche Tage darauf kehrt der gestrenge
Herr, das Begnadigungsdocument schwarz auf weiß in der Tasche, wieder auf
sein Schloß zurück. Was in diesem Falle den König bewogen habe, von
der gewohnten Strenge abzuweichen, ist aus den Acten nicht ersichtlich; auch
steht er in seiner Art keineswegs vereinzelt da. Der Chevalier Grancey hatte
ein Fräulein sammt deren Mutter nach seinem abgelegenen Schloße in der
Normandie entführt und gab allen gerichtlichen Aufforderungen zum Trotze
weder die eine noch die andre heraus. Plötzlich stellt er sich freiwillig dem
Gouverneur der Bastille, gewissermaßen unter Allerhöchsten Schutz und erhält
alsbald in Anerkennung seiner „loyalen Unterwerfung" das Begnadigungsde-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/133>, abgerufen am 23.07.2024.