Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

steht/' und beansprucht, daß eine große Versammlung, die doch zum nicht
geringen Theile aus Männern besteht, die in den Geschäften der städtischen
Vertretung grau geworden, fortan nach seiner Pfeife tanzen. Damit nicht
genug, verlangt er für seinen Geschäftsordnungsentwurf auch noch die Dring¬
lichkeit, d. h. nichts Geringeres als die ungesäumte erste Berathung desselben.
Unter normalen Verhältnissen würde eine so unerhörte Ueberrumpelung un¬
möglich fein, aus dem einfachen Grunde, weil Jeder den Entwurf erst zu
kennen verlangen würde; hier gelang sie, weil die "Fraction" vorher ihre
Mitglieder durch bindenden Beschluß verpflichtet hatte, für die Dringlichkeit
zu stimmen. Selbstverständlich nahm die hinter der Majorität nur um wenige
Stimmen zurückstehende Minorität diese ungeheuerliche Anmaßung nicht mit
demüthigem Schweigen hin. Aber die herrschende Partei zeigte ihr sofort,
wie unter der neuen Aera die Opposition behandelt werden wird. Exclama-
tionen und Gesten der wüthendsten Feindseligkeit für den Gegner, Beifalls¬
gebrüll und Händeklatschen im Saal und auf der Tribüne (!) für den Frac-
tionsgenossen, kurz, ein Tumult, wie er in den Räumen unseres Stadthauses
nie geahnt wurde -- das war die Signatur dieser ersten Sitzung der neuen
Stadtverordnetenversammlung. Und das Alles, ohne daß der neue Vorsteher
ein Wort des Tadels oder auch nur der Beschwichtigung gehabt hätte! Wahr¬
haftig, wir haben die Weltstadt Wr exeellöneö in diesem Punkte kaum noch,
um einen Vorsprung zu beneiden!

Draußen im Reich wird man zu diesen Dingen verwundert den Kopf
schütteln. Man wird sich fragen, was die so ungestüm auftretende Partei
denn eigentlich wolle. Leider ist man in Berlin selbst kaum im Stande, diese Frage
zu beantworten. Noch vor kurzer Zeit hätten sich die Wünsche der Partei
in eine Formel zusammenfassen lassen, die sich von dem alten gemüthlichen
Programm: "Es muß Alles verrungeniret werden!" nicht gär weit entfernt
hätte, ohne daß sich jedoch den ehrenwerthen Mitgliedern der "Fraction" et¬
wa irgendwelche Bereitwilligkeit gegenüber den Forderungen der Socialdemo¬
kratie nachsagen ließe. Es war jener bekannte dunkle Drang unklarer Köpfe,
daß "es anders werden müsse"; was? und wie? war gleichgültig oder min¬
destens sehr zweifelhaft. Heute, nachdem Herr Richter so unverhohlen die
Führerschaft übernommen, ist wenigstens soviel klar, daß die Berliner Stadt¬
verordnetenversammlung fortan zum Tummelplatz des politischen Radicalismus
gemacht werden soll.

Die radicale Partei hat mit der Ausschließlichkeit, mit welcher sie ihre
Herrschaft begonnen, eine schwere Verantwortung übernommen. Aber nicht
ihr allein darf dieselbe aufgebürdet werden; die Hälfte gebührt jenen 60--80
Procent der städtischen Wähler, welche bei den letzten Wahlen ihre Bürger¬
pflicht versäumt haben. -- Die Früchte der neuen Aera sind nur zu leicht


steht/' und beansprucht, daß eine große Versammlung, die doch zum nicht
geringen Theile aus Männern besteht, die in den Geschäften der städtischen
Vertretung grau geworden, fortan nach seiner Pfeife tanzen. Damit nicht
genug, verlangt er für seinen Geschäftsordnungsentwurf auch noch die Dring¬
lichkeit, d. h. nichts Geringeres als die ungesäumte erste Berathung desselben.
Unter normalen Verhältnissen würde eine so unerhörte Ueberrumpelung un¬
möglich fein, aus dem einfachen Grunde, weil Jeder den Entwurf erst zu
kennen verlangen würde; hier gelang sie, weil die „Fraction" vorher ihre
Mitglieder durch bindenden Beschluß verpflichtet hatte, für die Dringlichkeit
zu stimmen. Selbstverständlich nahm die hinter der Majorität nur um wenige
Stimmen zurückstehende Minorität diese ungeheuerliche Anmaßung nicht mit
demüthigem Schweigen hin. Aber die herrschende Partei zeigte ihr sofort,
wie unter der neuen Aera die Opposition behandelt werden wird. Exclama-
tionen und Gesten der wüthendsten Feindseligkeit für den Gegner, Beifalls¬
gebrüll und Händeklatschen im Saal und auf der Tribüne (!) für den Frac-
tionsgenossen, kurz, ein Tumult, wie er in den Räumen unseres Stadthauses
nie geahnt wurde — das war die Signatur dieser ersten Sitzung der neuen
Stadtverordnetenversammlung. Und das Alles, ohne daß der neue Vorsteher
ein Wort des Tadels oder auch nur der Beschwichtigung gehabt hätte! Wahr¬
haftig, wir haben die Weltstadt Wr exeellöneö in diesem Punkte kaum noch,
um einen Vorsprung zu beneiden!

Draußen im Reich wird man zu diesen Dingen verwundert den Kopf
schütteln. Man wird sich fragen, was die so ungestüm auftretende Partei
denn eigentlich wolle. Leider ist man in Berlin selbst kaum im Stande, diese Frage
zu beantworten. Noch vor kurzer Zeit hätten sich die Wünsche der Partei
in eine Formel zusammenfassen lassen, die sich von dem alten gemüthlichen
Programm: „Es muß Alles verrungeniret werden!" nicht gär weit entfernt
hätte, ohne daß sich jedoch den ehrenwerthen Mitgliedern der „Fraction" et¬
wa irgendwelche Bereitwilligkeit gegenüber den Forderungen der Socialdemo¬
kratie nachsagen ließe. Es war jener bekannte dunkle Drang unklarer Köpfe,
daß „es anders werden müsse"; was? und wie? war gleichgültig oder min¬
destens sehr zweifelhaft. Heute, nachdem Herr Richter so unverhohlen die
Führerschaft übernommen, ist wenigstens soviel klar, daß die Berliner Stadt¬
verordnetenversammlung fortan zum Tummelplatz des politischen Radicalismus
gemacht werden soll.

Die radicale Partei hat mit der Ausschließlichkeit, mit welcher sie ihre
Herrschaft begonnen, eine schwere Verantwortung übernommen. Aber nicht
ihr allein darf dieselbe aufgebürdet werden; die Hälfte gebührt jenen 60—80
Procent der städtischen Wähler, welche bei den letzten Wahlen ihre Bürger¬
pflicht versäumt haben. — Die Früchte der neuen Aera sind nur zu leicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132884"/>
          <p xml:id="ID_447" prev="#ID_446"> steht/' und beansprucht, daß eine große Versammlung, die doch zum nicht<lb/>
geringen Theile aus Männern besteht, die in den Geschäften der städtischen<lb/>
Vertretung grau geworden, fortan nach seiner Pfeife tanzen. Damit nicht<lb/>
genug, verlangt er für seinen Geschäftsordnungsentwurf auch noch die Dring¬<lb/>
lichkeit, d. h. nichts Geringeres als die ungesäumte erste Berathung desselben.<lb/>
Unter normalen Verhältnissen würde eine so unerhörte Ueberrumpelung un¬<lb/>
möglich fein, aus dem einfachen Grunde, weil Jeder den Entwurf erst zu<lb/>
kennen verlangen würde; hier gelang sie, weil die &#x201E;Fraction" vorher ihre<lb/>
Mitglieder durch bindenden Beschluß verpflichtet hatte, für die Dringlichkeit<lb/>
zu stimmen. Selbstverständlich nahm die hinter der Majorität nur um wenige<lb/>
Stimmen zurückstehende Minorität diese ungeheuerliche Anmaßung nicht mit<lb/>
demüthigem Schweigen hin. Aber die herrschende Partei zeigte ihr sofort,<lb/>
wie unter der neuen Aera die Opposition behandelt werden wird. Exclama-<lb/>
tionen und Gesten der wüthendsten Feindseligkeit für den Gegner, Beifalls¬<lb/>
gebrüll und Händeklatschen im Saal und auf der Tribüne (!) für den Frac-<lb/>
tionsgenossen, kurz, ein Tumult, wie er in den Räumen unseres Stadthauses<lb/>
nie geahnt wurde &#x2014; das war die Signatur dieser ersten Sitzung der neuen<lb/>
Stadtverordnetenversammlung. Und das Alles, ohne daß der neue Vorsteher<lb/>
ein Wort des Tadels oder auch nur der Beschwichtigung gehabt hätte! Wahr¬<lb/>
haftig, wir haben die Weltstadt Wr exeellöneö in diesem Punkte kaum noch,<lb/>
um einen Vorsprung zu beneiden!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_448"> Draußen im Reich wird man zu diesen Dingen verwundert den Kopf<lb/>
schütteln. Man wird sich fragen, was die so ungestüm auftretende Partei<lb/>
denn eigentlich wolle. Leider ist man in Berlin selbst kaum im Stande, diese Frage<lb/>
zu beantworten. Noch vor kurzer Zeit hätten sich die Wünsche der Partei<lb/>
in eine Formel zusammenfassen lassen, die sich von dem alten gemüthlichen<lb/>
Programm: &#x201E;Es muß Alles verrungeniret werden!" nicht gär weit entfernt<lb/>
hätte, ohne daß sich jedoch den ehrenwerthen Mitgliedern der &#x201E;Fraction" et¬<lb/>
wa irgendwelche Bereitwilligkeit gegenüber den Forderungen der Socialdemo¬<lb/>
kratie nachsagen ließe. Es war jener bekannte dunkle Drang unklarer Köpfe,<lb/>
daß &#x201E;es anders werden müsse"; was? und wie? war gleichgültig oder min¬<lb/>
destens sehr zweifelhaft. Heute, nachdem Herr Richter so unverhohlen die<lb/>
Führerschaft übernommen, ist wenigstens soviel klar, daß die Berliner Stadt¬<lb/>
verordnetenversammlung fortan zum Tummelplatz des politischen Radicalismus<lb/>
gemacht werden soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_449" next="#ID_450"> Die radicale Partei hat mit der Ausschließlichkeit, mit welcher sie ihre<lb/>
Herrschaft begonnen, eine schwere Verantwortung übernommen. Aber nicht<lb/>
ihr allein darf dieselbe aufgebürdet werden; die Hälfte gebührt jenen 60&#x2014;80<lb/>
Procent der städtischen Wähler, welche bei den letzten Wahlen ihre Bürger¬<lb/>
pflicht versäumt haben. &#x2014; Die Früchte der neuen Aera sind nur zu leicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] steht/' und beansprucht, daß eine große Versammlung, die doch zum nicht geringen Theile aus Männern besteht, die in den Geschäften der städtischen Vertretung grau geworden, fortan nach seiner Pfeife tanzen. Damit nicht genug, verlangt er für seinen Geschäftsordnungsentwurf auch noch die Dring¬ lichkeit, d. h. nichts Geringeres als die ungesäumte erste Berathung desselben. Unter normalen Verhältnissen würde eine so unerhörte Ueberrumpelung un¬ möglich fein, aus dem einfachen Grunde, weil Jeder den Entwurf erst zu kennen verlangen würde; hier gelang sie, weil die „Fraction" vorher ihre Mitglieder durch bindenden Beschluß verpflichtet hatte, für die Dringlichkeit zu stimmen. Selbstverständlich nahm die hinter der Majorität nur um wenige Stimmen zurückstehende Minorität diese ungeheuerliche Anmaßung nicht mit demüthigem Schweigen hin. Aber die herrschende Partei zeigte ihr sofort, wie unter der neuen Aera die Opposition behandelt werden wird. Exclama- tionen und Gesten der wüthendsten Feindseligkeit für den Gegner, Beifalls¬ gebrüll und Händeklatschen im Saal und auf der Tribüne (!) für den Frac- tionsgenossen, kurz, ein Tumult, wie er in den Räumen unseres Stadthauses nie geahnt wurde — das war die Signatur dieser ersten Sitzung der neuen Stadtverordnetenversammlung. Und das Alles, ohne daß der neue Vorsteher ein Wort des Tadels oder auch nur der Beschwichtigung gehabt hätte! Wahr¬ haftig, wir haben die Weltstadt Wr exeellöneö in diesem Punkte kaum noch, um einen Vorsprung zu beneiden! Draußen im Reich wird man zu diesen Dingen verwundert den Kopf schütteln. Man wird sich fragen, was die so ungestüm auftretende Partei denn eigentlich wolle. Leider ist man in Berlin selbst kaum im Stande, diese Frage zu beantworten. Noch vor kurzer Zeit hätten sich die Wünsche der Partei in eine Formel zusammenfassen lassen, die sich von dem alten gemüthlichen Programm: „Es muß Alles verrungeniret werden!" nicht gär weit entfernt hätte, ohne daß sich jedoch den ehrenwerthen Mitgliedern der „Fraction" et¬ wa irgendwelche Bereitwilligkeit gegenüber den Forderungen der Socialdemo¬ kratie nachsagen ließe. Es war jener bekannte dunkle Drang unklarer Köpfe, daß „es anders werden müsse"; was? und wie? war gleichgültig oder min¬ destens sehr zweifelhaft. Heute, nachdem Herr Richter so unverhohlen die Führerschaft übernommen, ist wenigstens soviel klar, daß die Berliner Stadt¬ verordnetenversammlung fortan zum Tummelplatz des politischen Radicalismus gemacht werden soll. Die radicale Partei hat mit der Ausschließlichkeit, mit welcher sie ihre Herrschaft begonnen, eine schwere Verantwortung übernommen. Aber nicht ihr allein darf dieselbe aufgebürdet werden; die Hälfte gebührt jenen 60—80 Procent der städtischen Wähler, welche bei den letzten Wahlen ihre Bürger¬ pflicht versäumt haben. — Die Früchte der neuen Aera sind nur zu leicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/124>, abgerufen am 01.10.2024.