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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Perrons das Billet nochmals revidirt und abgenommen. Der Aufenthalt
auf den Zwischenstationen dauert kaum eine Minute, man darf also beim
Ein- und Aussteigen nicht saumselig sein und seine Zeit etwa mit Fragen
vergeuden, die man sich bei Anwendung von gesundem Menschenverstand und
seiner fünf Sinne von selbst beantworten kann und die so häufig nur dazu
angethan sind, die Zugbeamten in ihrer Berufsausübung zu stören,

Eine Revision der Billete im Zuge findet äußerst selten statt, sie gehört
nur zu den Ausnahmen; es wird allüberall in das Gerechtigkeitsgefühl des
Volkes so großes Vertrauen gesetzt, daß man Jedem selbst überläßt, sich in
die Wagenclasse zu setzen, zu der er durch sein Billet die Berechtigung erlangt
hat, und dies Vertrauen wird auch nicht mißbraucht. Kommt ausnahmsweise
ein Mißbrauch vor und wird er zufällig entdeckt so steht die hohe Strafe von
2 Pfund Sterling darauf und dieser Umstand mag wohl auch wesentlich
dazu beitragen, einer Betrügerei seitens des Publikums vorzubeugen. Aber
die hohe Strafe allein wäre dazu nicht im Stande, das tiefe Gerechtigkeits¬
gefühl, welches die englischen Bevölkerungsschichten durchdringt, thut die
Hauptsache und ich kann dasselbe nicht hoch genug loben, da es sich überall,
besonders auch in der Reellität zeigt, mit der Jeder, auch der ganz Fremde,
in allen Verkaufsladen bedient wird. In dieser Hinsicht können wir in unserm
lieben Heimathland leider noch sehr viel lernen; da aber dieser Zug des eng¬
lischen Volkes ein echt germanischer ist, so werden wir hoffentlich unsere
Schwesternation bald erreichen. Ist doch Gott sei Dank die Zeit hinter uns,
wo es in so weiten Kreisen für ein besonderes Verdienst galt, gegen Alles,
was nach Ordnung strebte, um jeden Preis Opposition zu machen, durchgingt
doch ein tiefes Pflichtgefühl das deutsche Volk mehr und mehr und so wird
sich auch das altberühmte Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen wieder mehr be¬
leben und schließlich alle Verhältnisse durchdringen, nachdem es durch directen
und indirecten französischen Einfluß mit seinem hohlen, nur auf äußern
Schein berechneten Freiheitsschwindel mehr und mehr ins Schwanken ge¬
kommen war.

Außer diesem Gerechtigkeitsgefühl tritt jedem Fremden auch ein sehr hoch¬
entwickeltes Anstandsgefühl wohlthuend entgegen, besonders wenn man die
Reise nach England durch Belgien machte und dort mit der wallonischen Be¬
völkerung in Verbindung kam. Hier in London kann jeder anständige Mensch,
auch jede seine Dame getrost sich beim Reisen der dritten Classe bedienen,
trotzdem es keine besondern Frauenabtheilungen in den Eisenbahnwagen aller
Classen giebt, hier wird jeder gewöhnliche Arbeiter von den Mitreisenden sehr
gerne in die I. Classe aufgenommen, wenn er etwa mit einem derselben etwas
auf der Fahrt zu besprechen beabsichtigt, denn er weiß sich zu betragen und
er kehrt ganz von selbst wieder in seine Classe zurück, wenn das Geschäft be-


Perrons das Billet nochmals revidirt und abgenommen. Der Aufenthalt
auf den Zwischenstationen dauert kaum eine Minute, man darf also beim
Ein- und Aussteigen nicht saumselig sein und seine Zeit etwa mit Fragen
vergeuden, die man sich bei Anwendung von gesundem Menschenverstand und
seiner fünf Sinne von selbst beantworten kann und die so häufig nur dazu
angethan sind, die Zugbeamten in ihrer Berufsausübung zu stören,

Eine Revision der Billete im Zuge findet äußerst selten statt, sie gehört
nur zu den Ausnahmen; es wird allüberall in das Gerechtigkeitsgefühl des
Volkes so großes Vertrauen gesetzt, daß man Jedem selbst überläßt, sich in
die Wagenclasse zu setzen, zu der er durch sein Billet die Berechtigung erlangt
hat, und dies Vertrauen wird auch nicht mißbraucht. Kommt ausnahmsweise
ein Mißbrauch vor und wird er zufällig entdeckt so steht die hohe Strafe von
2 Pfund Sterling darauf und dieser Umstand mag wohl auch wesentlich
dazu beitragen, einer Betrügerei seitens des Publikums vorzubeugen. Aber
die hohe Strafe allein wäre dazu nicht im Stande, das tiefe Gerechtigkeits¬
gefühl, welches die englischen Bevölkerungsschichten durchdringt, thut die
Hauptsache und ich kann dasselbe nicht hoch genug loben, da es sich überall,
besonders auch in der Reellität zeigt, mit der Jeder, auch der ganz Fremde,
in allen Verkaufsladen bedient wird. In dieser Hinsicht können wir in unserm
lieben Heimathland leider noch sehr viel lernen; da aber dieser Zug des eng¬
lischen Volkes ein echt germanischer ist, so werden wir hoffentlich unsere
Schwesternation bald erreichen. Ist doch Gott sei Dank die Zeit hinter uns,
wo es in so weiten Kreisen für ein besonderes Verdienst galt, gegen Alles,
was nach Ordnung strebte, um jeden Preis Opposition zu machen, durchgingt
doch ein tiefes Pflichtgefühl das deutsche Volk mehr und mehr und so wird
sich auch das altberühmte Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen wieder mehr be¬
leben und schließlich alle Verhältnisse durchdringen, nachdem es durch directen
und indirecten französischen Einfluß mit seinem hohlen, nur auf äußern
Schein berechneten Freiheitsschwindel mehr und mehr ins Schwanken ge¬
kommen war.

Außer diesem Gerechtigkeitsgefühl tritt jedem Fremden auch ein sehr hoch¬
entwickeltes Anstandsgefühl wohlthuend entgegen, besonders wenn man die
Reise nach England durch Belgien machte und dort mit der wallonischen Be¬
völkerung in Verbindung kam. Hier in London kann jeder anständige Mensch,
auch jede seine Dame getrost sich beim Reisen der dritten Classe bedienen,
trotzdem es keine besondern Frauenabtheilungen in den Eisenbahnwagen aller
Classen giebt, hier wird jeder gewöhnliche Arbeiter von den Mitreisenden sehr
gerne in die I. Classe aufgenommen, wenn er etwa mit einem derselben etwas
auf der Fahrt zu besprechen beabsichtigt, denn er weiß sich zu betragen und
er kehrt ganz von selbst wieder in seine Classe zurück, wenn das Geschäft be-


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[0114] Perrons das Billet nochmals revidirt und abgenommen. Der Aufenthalt auf den Zwischenstationen dauert kaum eine Minute, man darf also beim Ein- und Aussteigen nicht saumselig sein und seine Zeit etwa mit Fragen vergeuden, die man sich bei Anwendung von gesundem Menschenverstand und seiner fünf Sinne von selbst beantworten kann und die so häufig nur dazu angethan sind, die Zugbeamten in ihrer Berufsausübung zu stören, Eine Revision der Billete im Zuge findet äußerst selten statt, sie gehört nur zu den Ausnahmen; es wird allüberall in das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes so großes Vertrauen gesetzt, daß man Jedem selbst überläßt, sich in die Wagenclasse zu setzen, zu der er durch sein Billet die Berechtigung erlangt hat, und dies Vertrauen wird auch nicht mißbraucht. Kommt ausnahmsweise ein Mißbrauch vor und wird er zufällig entdeckt so steht die hohe Strafe von 2 Pfund Sterling darauf und dieser Umstand mag wohl auch wesentlich dazu beitragen, einer Betrügerei seitens des Publikums vorzubeugen. Aber die hohe Strafe allein wäre dazu nicht im Stande, das tiefe Gerechtigkeits¬ gefühl, welches die englischen Bevölkerungsschichten durchdringt, thut die Hauptsache und ich kann dasselbe nicht hoch genug loben, da es sich überall, besonders auch in der Reellität zeigt, mit der Jeder, auch der ganz Fremde, in allen Verkaufsladen bedient wird. In dieser Hinsicht können wir in unserm lieben Heimathland leider noch sehr viel lernen; da aber dieser Zug des eng¬ lischen Volkes ein echt germanischer ist, so werden wir hoffentlich unsere Schwesternation bald erreichen. Ist doch Gott sei Dank die Zeit hinter uns, wo es in so weiten Kreisen für ein besonderes Verdienst galt, gegen Alles, was nach Ordnung strebte, um jeden Preis Opposition zu machen, durchgingt doch ein tiefes Pflichtgefühl das deutsche Volk mehr und mehr und so wird sich auch das altberühmte Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen wieder mehr be¬ leben und schließlich alle Verhältnisse durchdringen, nachdem es durch directen und indirecten französischen Einfluß mit seinem hohlen, nur auf äußern Schein berechneten Freiheitsschwindel mehr und mehr ins Schwanken ge¬ kommen war. Außer diesem Gerechtigkeitsgefühl tritt jedem Fremden auch ein sehr hoch¬ entwickeltes Anstandsgefühl wohlthuend entgegen, besonders wenn man die Reise nach England durch Belgien machte und dort mit der wallonischen Be¬ völkerung in Verbindung kam. Hier in London kann jeder anständige Mensch, auch jede seine Dame getrost sich beim Reisen der dritten Classe bedienen, trotzdem es keine besondern Frauenabtheilungen in den Eisenbahnwagen aller Classen giebt, hier wird jeder gewöhnliche Arbeiter von den Mitreisenden sehr gerne in die I. Classe aufgenommen, wenn er etwa mit einem derselben etwas auf der Fahrt zu besprechen beabsichtigt, denn er weiß sich zu betragen und er kehrt ganz von selbst wieder in seine Classe zurück, wenn das Geschäft be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/114>, abgerufen am 23.07.2024.