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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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kommt eben Alles auf den Nachweis der veranlassenden Umstände und der
pflichtmäßigen Absicht an. Wenn ein Gerichtsgebäude in Brand geräth, so
tritt ebenfalls eine den Umständen angepaßte Disposition ein, trotz der
Registraturordnung. Wer wird aber aus solchen Ausnahmefällen eine Befug-
niß zur beliebigen Disposition für den Vorstand rechtfertigen wollen?

Wir kommen zu den Mitteln der Vertheidigung, um das subjective
Moment der Beschuldigung zu entkräften. Der Vertheidigung zufolge hat
der Angeklagte Erlasse voll von wichtigsten Direktiven der großen Politik in
gutem Glauben für sein Privatetgenthum gehalten -- denn er hat sie mit
puerilen Randbemerkungen versehen. -- Ein klassischer Beweis! Schreibt Einer
nicht so etwas auch im Aerger, ohne sogleich an die Folgen zu denken, oder
in der Meinung, die wenigen Worte wieder vertilgen zu können. Oder kann
nicht auch Einer so schreiben, gerade weil er den Dolus der Entfernung be¬
reits in sich trägt? Die Vertheidigung hat als weiteren Beweis des guten
Glaubens angeführt, daß die erwähnten Erlasse doch immerhin nicht bloß
allgemeine Direktiven, sondern auch persönliche Rügen enthalten, und daß
eine Rüge dazu da sei, damit sie Einer sich einstecke! Erröthe, deutsche Wis¬
senschaft, erröthe, deutscher Amtsernst.

Die Vertheidigung hat sich des Weiteren damit beschäftigt, den guten
Glauben des Angeklagten nachzuweisen, als er gegen die wiederholte Auffor¬
derung der Vorgesetzten zur Herausgabe der weggeführten Aktenstücke die Un-
kenntniß des Verbleibes derselben vorschützte, die wichtigsten derselben aber nach¬
her plötzlich zu Berlin in einem Schreibtisch gefunden haben wollte. Um die
unerhörte Fahrlässigkeit, die hier doch mindestens vorliegen würde, ganz zu
entschuldigen, hat die Vertheidigung sich mit dickflüssiger Sentimentalität wieder
und wieder auf einen höchst schmerzlichen Todesfall in der Familie des Ange¬
klagten bezogen. Darf persönlicher Schmerz, wie groß und tief er sei, zur
völligen Versäumniß der dringendsten Pflicht führen? War das die Hand¬
lungsweise der Römer als deren Gleichen der eine Vertheidiger die Geschmack¬
losigkeit hatte, diesen Angeklagten hinzustellen? Das deutsche Volk bewahrt
im frischen und ehrfurchtsvollen Angedenken das erhabene Beispiel des Königs-
sohnes, dem ein Kind entrissen wurde, als er ins Feld zog, und der keine
Stunde als Heerführer seine Pflicht Hersäumte. Und dabei wird diese Senti¬
mentalität nicht einmal mit der Aufklärung der Daten fertig, ob jener Trauerfall
und die unverantwortliche unwissentliche Wegführung der Aktenstücke wirklich
in denselben Zeitpunkt fallen. Besäße dieser Angeklagte eine Spur von Vor¬
nehmheit, so hätte er diese Art der Entschuldigung im Zorn von sich weg¬
weisen müssen. Ist aber erwiesen, daß hier wirklich nur eine wodurch immer
herbeigeführte Nachlässigkeit vorlag? Wenn der Angeklagte das Wissen um


kommt eben Alles auf den Nachweis der veranlassenden Umstände und der
pflichtmäßigen Absicht an. Wenn ein Gerichtsgebäude in Brand geräth, so
tritt ebenfalls eine den Umständen angepaßte Disposition ein, trotz der
Registraturordnung. Wer wird aber aus solchen Ausnahmefällen eine Befug-
niß zur beliebigen Disposition für den Vorstand rechtfertigen wollen?

Wir kommen zu den Mitteln der Vertheidigung, um das subjective
Moment der Beschuldigung zu entkräften. Der Vertheidigung zufolge hat
der Angeklagte Erlasse voll von wichtigsten Direktiven der großen Politik in
gutem Glauben für sein Privatetgenthum gehalten — denn er hat sie mit
puerilen Randbemerkungen versehen. — Ein klassischer Beweis! Schreibt Einer
nicht so etwas auch im Aerger, ohne sogleich an die Folgen zu denken, oder
in der Meinung, die wenigen Worte wieder vertilgen zu können. Oder kann
nicht auch Einer so schreiben, gerade weil er den Dolus der Entfernung be¬
reits in sich trägt? Die Vertheidigung hat als weiteren Beweis des guten
Glaubens angeführt, daß die erwähnten Erlasse doch immerhin nicht bloß
allgemeine Direktiven, sondern auch persönliche Rügen enthalten, und daß
eine Rüge dazu da sei, damit sie Einer sich einstecke! Erröthe, deutsche Wis¬
senschaft, erröthe, deutscher Amtsernst.

Die Vertheidigung hat sich des Weiteren damit beschäftigt, den guten
Glauben des Angeklagten nachzuweisen, als er gegen die wiederholte Auffor¬
derung der Vorgesetzten zur Herausgabe der weggeführten Aktenstücke die Un-
kenntniß des Verbleibes derselben vorschützte, die wichtigsten derselben aber nach¬
her plötzlich zu Berlin in einem Schreibtisch gefunden haben wollte. Um die
unerhörte Fahrlässigkeit, die hier doch mindestens vorliegen würde, ganz zu
entschuldigen, hat die Vertheidigung sich mit dickflüssiger Sentimentalität wieder
und wieder auf einen höchst schmerzlichen Todesfall in der Familie des Ange¬
klagten bezogen. Darf persönlicher Schmerz, wie groß und tief er sei, zur
völligen Versäumniß der dringendsten Pflicht führen? War das die Hand¬
lungsweise der Römer als deren Gleichen der eine Vertheidiger die Geschmack¬
losigkeit hatte, diesen Angeklagten hinzustellen? Das deutsche Volk bewahrt
im frischen und ehrfurchtsvollen Angedenken das erhabene Beispiel des Königs-
sohnes, dem ein Kind entrissen wurde, als er ins Feld zog, und der keine
Stunde als Heerführer seine Pflicht Hersäumte. Und dabei wird diese Senti¬
mentalität nicht einmal mit der Aufklärung der Daten fertig, ob jener Trauerfall
und die unverantwortliche unwissentliche Wegführung der Aktenstücke wirklich
in denselben Zeitpunkt fallen. Besäße dieser Angeklagte eine Spur von Vor¬
nehmheit, so hätte er diese Art der Entschuldigung im Zorn von sich weg¬
weisen müssen. Ist aber erwiesen, daß hier wirklich nur eine wodurch immer
herbeigeführte Nachlässigkeit vorlag? Wenn der Angeklagte das Wissen um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/518>, abgerufen am 27.07.2024.