Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ende des siebzehnten Jahrhunderts"*), fast genau und wörtlich dasselbe, was
jener klare Praktiker sich aus dem viel engeren Thema Endemann's "heraus¬
genommen" hatte: "hier galt es darzulegen, wie sehr die kanonischen Rechts¬
ansichten auf die Gestaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch,
warum diese kanonische Wirthschaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle
ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von
der orthodoxen Doctrin nicht aufgegeben ist, im Widerstreit mit den realen
Kulturzuständen endlich doch hat unterliegen müssen. . . . Sicherlich vermin¬
dert sich das praktische Interesse nicht, wenn zugleich ersichtlich wird, was
die Gesetzgebung des Staates sogar auf privatrechtlichen Gebiete zu gewär¬
tigen hätte, wofern die katholische Kirche noch einmal versuchen sollte, die
Prätension ihrer Herrschaft, der sie keineswegs entsagt hat, von Neuem gel¬
tend zu machen. Das Gebiet der Moral erstreckt sich, wie gezeigt werden
wird, soweit, daß unter diesem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober¬
hauptes sehr wohl dieselbe Herrschaft über die Rechtsgesetzgebung wieder zu
erobern suchen kann, welche die kanonische Dogmatik einst thatsächlich geübt
hat." --

Man sieht, wie nahe die dem modernen Leben scheinbar so fern liegende
Arbeit, den wichtigsten Problemen der Gegenwart tritt. Es ist im Grunde
nichts anderes als das freudige Siegespanier, das wir in dem heißesten
Kampfe hochhalten, den Deutschland seit Jahrhunderten gekämpft, das diese
Schrift uns trostreich entfaltet. Sie giebt uns die Gewißheit, daß Deutsch¬
lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen,
den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen katholischen Kirche, ungeachtet
ihrer vielhundertjährigen Uebung und Gewohnheit, siegreich getrotzt hat, um
leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro¬
pas. Dieser Gedanke ist sehr tröstlich. Denn wir haben nicht den Schatten
eines Grundes für die Annahme, daß unser Volk heute weniger thatkräftig
und mächtig sei. als vor einem halben Jahrtausend.

Und aus einem andern Grunde noch ist das vorliegende Werk Ende¬
mann's sehr erfreulich und trostreich für unsere Gegenwart. Ganze Reihen
von Generationen haben mit schwerer Gelehrsamkeit und größtenteils im
besten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutschland im Mittelalter
schlankweg das Römische Recht Justinian's als Grundlage des gesammten
deutschen Privatrechtes "reeipirt" habe und -- nach der Meinung vieler ge¬
lehrter Männer -- noch bis zum heutigen Tage als das einzige "gemeine"
deutsche Privatrecht besitze. -- Es ist tröstlich, meine ich, bei Endemann den
genauen wissenschaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß dieses Märchen in der



") Erster Band. Berlin, I. Guttentag (D, CoMn), 1874.

Ende des siebzehnten Jahrhunderts"*), fast genau und wörtlich dasselbe, was
jener klare Praktiker sich aus dem viel engeren Thema Endemann's „heraus¬
genommen" hatte: „hier galt es darzulegen, wie sehr die kanonischen Rechts¬
ansichten auf die Gestaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch,
warum diese kanonische Wirthschaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle
ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von
der orthodoxen Doctrin nicht aufgegeben ist, im Widerstreit mit den realen
Kulturzuständen endlich doch hat unterliegen müssen. . . . Sicherlich vermin¬
dert sich das praktische Interesse nicht, wenn zugleich ersichtlich wird, was
die Gesetzgebung des Staates sogar auf privatrechtlichen Gebiete zu gewär¬
tigen hätte, wofern die katholische Kirche noch einmal versuchen sollte, die
Prätension ihrer Herrschaft, der sie keineswegs entsagt hat, von Neuem gel¬
tend zu machen. Das Gebiet der Moral erstreckt sich, wie gezeigt werden
wird, soweit, daß unter diesem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober¬
hauptes sehr wohl dieselbe Herrschaft über die Rechtsgesetzgebung wieder zu
erobern suchen kann, welche die kanonische Dogmatik einst thatsächlich geübt
hat." —

Man sieht, wie nahe die dem modernen Leben scheinbar so fern liegende
Arbeit, den wichtigsten Problemen der Gegenwart tritt. Es ist im Grunde
nichts anderes als das freudige Siegespanier, das wir in dem heißesten
Kampfe hochhalten, den Deutschland seit Jahrhunderten gekämpft, das diese
Schrift uns trostreich entfaltet. Sie giebt uns die Gewißheit, daß Deutsch¬
lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen,
den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen katholischen Kirche, ungeachtet
ihrer vielhundertjährigen Uebung und Gewohnheit, siegreich getrotzt hat, um
leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro¬
pas. Dieser Gedanke ist sehr tröstlich. Denn wir haben nicht den Schatten
eines Grundes für die Annahme, daß unser Volk heute weniger thatkräftig
und mächtig sei. als vor einem halben Jahrtausend.

Und aus einem andern Grunde noch ist das vorliegende Werk Ende¬
mann's sehr erfreulich und trostreich für unsere Gegenwart. Ganze Reihen
von Generationen haben mit schwerer Gelehrsamkeit und größtenteils im
besten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutschland im Mittelalter
schlankweg das Römische Recht Justinian's als Grundlage des gesammten
deutschen Privatrechtes „reeipirt" habe und — nach der Meinung vieler ge¬
lehrter Männer — noch bis zum heutigen Tage als das einzige „gemeine"
deutsche Privatrecht besitze. — Es ist tröstlich, meine ich, bei Endemann den
genauen wissenschaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß dieses Märchen in der



") Erster Band. Berlin, I. Guttentag (D, CoMn), 1874.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0492" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132714"/>
          <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434"> Ende des siebzehnten Jahrhunderts"*), fast genau und wörtlich dasselbe, was<lb/>
jener klare Praktiker sich aus dem viel engeren Thema Endemann's &#x201E;heraus¬<lb/>
genommen" hatte: &#x201E;hier galt es darzulegen, wie sehr die kanonischen Rechts¬<lb/>
ansichten auf die Gestaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch,<lb/>
warum diese kanonische Wirthschaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle<lb/>
ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von<lb/>
der orthodoxen Doctrin nicht aufgegeben ist, im Widerstreit mit den realen<lb/>
Kulturzuständen endlich doch hat unterliegen müssen. . . . Sicherlich vermin¬<lb/>
dert sich das praktische Interesse nicht, wenn zugleich ersichtlich wird, was<lb/>
die Gesetzgebung des Staates sogar auf privatrechtlichen Gebiete zu gewär¬<lb/>
tigen hätte, wofern die katholische Kirche noch einmal versuchen sollte, die<lb/>
Prätension ihrer Herrschaft, der sie keineswegs entsagt hat, von Neuem gel¬<lb/>
tend zu machen. Das Gebiet der Moral erstreckt sich, wie gezeigt werden<lb/>
wird, soweit, daß unter diesem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober¬<lb/>
hauptes sehr wohl dieselbe Herrschaft über die Rechtsgesetzgebung wieder zu<lb/>
erobern suchen kann, welche die kanonische Dogmatik einst thatsächlich geübt<lb/>
hat." &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1436"> Man sieht, wie nahe die dem modernen Leben scheinbar so fern liegende<lb/>
Arbeit, den wichtigsten Problemen der Gegenwart tritt. Es ist im Grunde<lb/>
nichts anderes als das freudige Siegespanier, das wir in dem heißesten<lb/>
Kampfe hochhalten, den Deutschland seit Jahrhunderten gekämpft, das diese<lb/>
Schrift uns trostreich entfaltet. Sie giebt uns die Gewißheit, daß Deutsch¬<lb/>
lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen,<lb/>
den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen katholischen Kirche, ungeachtet<lb/>
ihrer vielhundertjährigen Uebung und Gewohnheit, siegreich getrotzt hat, um<lb/>
leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro¬<lb/>
pas. Dieser Gedanke ist sehr tröstlich. Denn wir haben nicht den Schatten<lb/>
eines Grundes für die Annahme, daß unser Volk heute weniger thatkräftig<lb/>
und mächtig sei. als vor einem halben Jahrtausend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1437" next="#ID_1438"> Und aus einem andern Grunde noch ist das vorliegende Werk Ende¬<lb/>
mann's sehr erfreulich und trostreich für unsere Gegenwart. Ganze Reihen<lb/>
von Generationen haben mit schwerer Gelehrsamkeit und größtenteils im<lb/>
besten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutschland im Mittelalter<lb/>
schlankweg das Römische Recht Justinian's als Grundlage des gesammten<lb/>
deutschen Privatrechtes &#x201E;reeipirt" habe und &#x2014; nach der Meinung vieler ge¬<lb/>
lehrter Männer &#x2014; noch bis zum heutigen Tage als das einzige &#x201E;gemeine"<lb/>
deutsche Privatrecht besitze. &#x2014; Es ist tröstlich, meine ich, bei Endemann den<lb/>
genauen wissenschaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß dieses Märchen in der</p><lb/>
          <note xml:id="FID_108" place="foot"> ") Erster Band. Berlin, I. Guttentag (D, CoMn), 1874.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0492] Ende des siebzehnten Jahrhunderts"*), fast genau und wörtlich dasselbe, was jener klare Praktiker sich aus dem viel engeren Thema Endemann's „heraus¬ genommen" hatte: „hier galt es darzulegen, wie sehr die kanonischen Rechts¬ ansichten auf die Gestaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch, warum diese kanonische Wirthschaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von der orthodoxen Doctrin nicht aufgegeben ist, im Widerstreit mit den realen Kulturzuständen endlich doch hat unterliegen müssen. . . . Sicherlich vermin¬ dert sich das praktische Interesse nicht, wenn zugleich ersichtlich wird, was die Gesetzgebung des Staates sogar auf privatrechtlichen Gebiete zu gewär¬ tigen hätte, wofern die katholische Kirche noch einmal versuchen sollte, die Prätension ihrer Herrschaft, der sie keineswegs entsagt hat, von Neuem gel¬ tend zu machen. Das Gebiet der Moral erstreckt sich, wie gezeigt werden wird, soweit, daß unter diesem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober¬ hauptes sehr wohl dieselbe Herrschaft über die Rechtsgesetzgebung wieder zu erobern suchen kann, welche die kanonische Dogmatik einst thatsächlich geübt hat." — Man sieht, wie nahe die dem modernen Leben scheinbar so fern liegende Arbeit, den wichtigsten Problemen der Gegenwart tritt. Es ist im Grunde nichts anderes als das freudige Siegespanier, das wir in dem heißesten Kampfe hochhalten, den Deutschland seit Jahrhunderten gekämpft, das diese Schrift uns trostreich entfaltet. Sie giebt uns die Gewißheit, daß Deutsch¬ lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen, den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen katholischen Kirche, ungeachtet ihrer vielhundertjährigen Uebung und Gewohnheit, siegreich getrotzt hat, um leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro¬ pas. Dieser Gedanke ist sehr tröstlich. Denn wir haben nicht den Schatten eines Grundes für die Annahme, daß unser Volk heute weniger thatkräftig und mächtig sei. als vor einem halben Jahrtausend. Und aus einem andern Grunde noch ist das vorliegende Werk Ende¬ mann's sehr erfreulich und trostreich für unsere Gegenwart. Ganze Reihen von Generationen haben mit schwerer Gelehrsamkeit und größtenteils im besten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutschland im Mittelalter schlankweg das Römische Recht Justinian's als Grundlage des gesammten deutschen Privatrechtes „reeipirt" habe und — nach der Meinung vieler ge¬ lehrter Männer — noch bis zum heutigen Tage als das einzige „gemeine" deutsche Privatrecht besitze. — Es ist tröstlich, meine ich, bei Endemann den genauen wissenschaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß dieses Märchen in der ") Erster Band. Berlin, I. Guttentag (D, CoMn), 1874.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/492
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/492>, abgerufen am 27.07.2024.