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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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lichen Amtscompetenz. Die Forderung ist durchaus richtig und sach¬
gemäß. Denn wir haben nicht die monarchische Organisation der Haupt-
Parteien im Parlament und können sie nicht haben, welche den Führer einer
Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminister macht, neben welchem die
anderen Minister zurücktreten, weil sie nicht dieselbe Stellung in der regieren¬
den Partei haben. Bei uns würde jeder Minister bei der formell losen Ver¬
fassung des englischen Ministeriums seine eigene Partei im Reichstage und,
was noch schlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reichs¬
regierung würde sich in klägliche Trümmer auflösen.

Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein
merkwürdig geringes Verständniß. Der Kanzler ist nach der Reichsverfassung
der vom Kaiser ernannte Vorsitzende des Bundesrathes. Seine erste und
vornehmste Aufgabe ist, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu¬
führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erste Kraft er¬
fordern wird, welche sich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ist nicht
abzusehen, wie das deutsche Reich jemals eine Action seiner Negierung, also
des Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlosen, unzusammenhängenden
Majoritätsbeschlüssen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt,
ein einheitliches, auf der Höhe der Reichsbedürfnisfe stehendes Handeln des
Bundesraths herbeizuführen, so kann er denselben Tanz nicht noch einmal
in einem collegialischen Ministerium und zum dritten Mal in einem Reichs¬
tag mit von sich bekämpfenden Regierungseinflüssen zersetzter Majorität an¬
fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, sondern selbst über die Vor-
stellbarkeit menschlicher Leistungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng¬
lische Mittel, daß der Premierminister das Spiel zeitweise abbricht. Denn
sowie das deutsche Reich nach Innen und Außen beschaffen ist, steht bei der
Unterbrechung des Spiels durch den einzigen Mann, der es machen kann, das
ganze Reich auf dem Spiel. England ist in der glücklichen Lage, wenn man
das für ein Glück halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anstoß
des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutsche
Staatswagen, und so wird es auf unabsehbare Zeit bleiben, erfordert die
beste und geübteste Kraft, um sich gehörig zu bewegen, um nicht sofort aus
den Geleisen zu gerathen. Das ist unbequem, aber auch ein heilsamer Zwang
zur Selbstbeherrschung, Weisheit und Anschauung aller patriotischen Kräfte.
Wir wollen deßhalb die Engländer nicht allzusehr beneiden, vor Allem aber
ihre Einrichtung nicht ungeschickt nachahmen. Mögen die wohlgesinnten
Männer im Reichstag, welche nicht nur gesonderte Reichsämter verlangen,
was wir vollständig billigen, sondern an der Spitze derselben verantwortliche
Neichsminister, nur ja nicht vergessen, was dem deutschen Kanzler dann un¬
entbehrlich ist: nämlich ein Uebergewicht der gesetzlichen Amts-


lichen Amtscompetenz. Die Forderung ist durchaus richtig und sach¬
gemäß. Denn wir haben nicht die monarchische Organisation der Haupt-
Parteien im Parlament und können sie nicht haben, welche den Führer einer
Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminister macht, neben welchem die
anderen Minister zurücktreten, weil sie nicht dieselbe Stellung in der regieren¬
den Partei haben. Bei uns würde jeder Minister bei der formell losen Ver¬
fassung des englischen Ministeriums seine eigene Partei im Reichstage und,
was noch schlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reichs¬
regierung würde sich in klägliche Trümmer auflösen.

Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein
merkwürdig geringes Verständniß. Der Kanzler ist nach der Reichsverfassung
der vom Kaiser ernannte Vorsitzende des Bundesrathes. Seine erste und
vornehmste Aufgabe ist, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu¬
führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erste Kraft er¬
fordern wird, welche sich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ist nicht
abzusehen, wie das deutsche Reich jemals eine Action seiner Negierung, also
des Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlosen, unzusammenhängenden
Majoritätsbeschlüssen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt,
ein einheitliches, auf der Höhe der Reichsbedürfnisfe stehendes Handeln des
Bundesraths herbeizuführen, so kann er denselben Tanz nicht noch einmal
in einem collegialischen Ministerium und zum dritten Mal in einem Reichs¬
tag mit von sich bekämpfenden Regierungseinflüssen zersetzter Majorität an¬
fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, sondern selbst über die Vor-
stellbarkeit menschlicher Leistungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng¬
lische Mittel, daß der Premierminister das Spiel zeitweise abbricht. Denn
sowie das deutsche Reich nach Innen und Außen beschaffen ist, steht bei der
Unterbrechung des Spiels durch den einzigen Mann, der es machen kann, das
ganze Reich auf dem Spiel. England ist in der glücklichen Lage, wenn man
das für ein Glück halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anstoß
des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutsche
Staatswagen, und so wird es auf unabsehbare Zeit bleiben, erfordert die
beste und geübteste Kraft, um sich gehörig zu bewegen, um nicht sofort aus
den Geleisen zu gerathen. Das ist unbequem, aber auch ein heilsamer Zwang
zur Selbstbeherrschung, Weisheit und Anschauung aller patriotischen Kräfte.
Wir wollen deßhalb die Engländer nicht allzusehr beneiden, vor Allem aber
ihre Einrichtung nicht ungeschickt nachahmen. Mögen die wohlgesinnten
Männer im Reichstag, welche nicht nur gesonderte Reichsämter verlangen,
was wir vollständig billigen, sondern an der Spitze derselben verantwortliche
Neichsminister, nur ja nicht vergessen, was dem deutschen Kanzler dann un¬
entbehrlich ist: nämlich ein Uebergewicht der gesetzlichen Amts-


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[0476] lichen Amtscompetenz. Die Forderung ist durchaus richtig und sach¬ gemäß. Denn wir haben nicht die monarchische Organisation der Haupt- Parteien im Parlament und können sie nicht haben, welche den Führer einer Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminister macht, neben welchem die anderen Minister zurücktreten, weil sie nicht dieselbe Stellung in der regieren¬ den Partei haben. Bei uns würde jeder Minister bei der formell losen Ver¬ fassung des englischen Ministeriums seine eigene Partei im Reichstage und, was noch schlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reichs¬ regierung würde sich in klägliche Trümmer auflösen. Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein merkwürdig geringes Verständniß. Der Kanzler ist nach der Reichsverfassung der vom Kaiser ernannte Vorsitzende des Bundesrathes. Seine erste und vornehmste Aufgabe ist, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu¬ führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erste Kraft er¬ fordern wird, welche sich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ist nicht abzusehen, wie das deutsche Reich jemals eine Action seiner Negierung, also des Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlosen, unzusammenhängenden Majoritätsbeschlüssen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt, ein einheitliches, auf der Höhe der Reichsbedürfnisfe stehendes Handeln des Bundesraths herbeizuführen, so kann er denselben Tanz nicht noch einmal in einem collegialischen Ministerium und zum dritten Mal in einem Reichs¬ tag mit von sich bekämpfenden Regierungseinflüssen zersetzter Majorität an¬ fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, sondern selbst über die Vor- stellbarkeit menschlicher Leistungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng¬ lische Mittel, daß der Premierminister das Spiel zeitweise abbricht. Denn sowie das deutsche Reich nach Innen und Außen beschaffen ist, steht bei der Unterbrechung des Spiels durch den einzigen Mann, der es machen kann, das ganze Reich auf dem Spiel. England ist in der glücklichen Lage, wenn man das für ein Glück halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anstoß des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutsche Staatswagen, und so wird es auf unabsehbare Zeit bleiben, erfordert die beste und geübteste Kraft, um sich gehörig zu bewegen, um nicht sofort aus den Geleisen zu gerathen. Das ist unbequem, aber auch ein heilsamer Zwang zur Selbstbeherrschung, Weisheit und Anschauung aller patriotischen Kräfte. Wir wollen deßhalb die Engländer nicht allzusehr beneiden, vor Allem aber ihre Einrichtung nicht ungeschickt nachahmen. Mögen die wohlgesinnten Männer im Reichstag, welche nicht nur gesonderte Reichsämter verlangen, was wir vollständig billigen, sondern an der Spitze derselben verantwortliche Neichsminister, nur ja nicht vergessen, was dem deutschen Kanzler dann un¬ entbehrlich ist: nämlich ein Uebergewicht der gesetzlichen Amts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/476>, abgerufen am 28.07.2024.