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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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eigener ist, ganz besonders wirksame Säfte und Kräfte: Ton und Farbe der
ganzen Darstellung wird und bleibt eine nationale Schöpfung: so manche
nationale Eigenschaft und Bestrebung wird nur von dem Geiste der eigenen
Nation und aus dem Geiste derselben begriffen und verstanden. Droysen's
Methode fechten wir nicht in ihrer Berechtigung an; wohl aber behaupten
wir, daß sie nicht die einzig berechtigte sei: die universale Auffassung, die es
versteht von verschiedenen Standpunkten aus eine Sache zu sehen und aus
dem Zusammenwirken der vielseitigen Bilder das Endresultat und Endurtheil
zu gewinnen, sie ist nicht nur neben der Droysen'schen Weise berechtigt, sondern
sie hat auch den Vorrang vor ihr zu behaupten.

Eine andere Eigenthümlichkeit Droysen's ist neuerdings wiederholt be¬
merkt worden. Seine Erzählung ist bemüht, sich möglichst genau dem akten¬
mäßigen Verlaufe der Ereignisse anzuschließen; er geht jeder Windung und
Biegung seiner Straße gewissenhaft nach; von Monat zu Monat, oft von
Tag zu Tag begleitet er jede kleine Abwandlung, welche die politischen Ge¬
schäfte durchmachen, mit aufmerksamer Feder. Also beachtet er nicht immer
die Grenzlinie, die das Geschäft von der Geschichte scheidet. Bei besonders
wichtigen Gelegenheiten ist es natürlich jedes Historikers Bestreben, möglichst
ins Detail der historischen Vorgänge zu dringen; aber durchgehends diese
minutiöse tagebuchartige Erzählung festzuhalten ist ebenso ermüdend als es
von dem eigentlichen Verständnisse der Geschichte ableitet. Des Historikers
Sache ist es aus dem unabsehbaren Meere der täglich vor sich gehenden That¬
sachen das zu wählen, was wirklich Geschichte ist: nicht alles was geschieht,
ist deßhalb auch Geschichte. Aus der Fülle seines Materials theilt Droysen
oft zu viel mit; sein Leser verliert die Straße, die er wandeln soll: er geht
unter bei allen den auf ihn einstürmenden Eindrücken und Gesichtspunkten
und Erwägungen.

Droysen's Darstellung des großen Kurfürsten ist von mehreren Historikern
der Vorwurf gemacht worden, daß bei seiner Betonung der "Politik" die
Persönlichkeit des Kurfürsten nicht zu vollem Ausdrucke gelangt. Dieser
Einwand ist nicht unbegründet. Von dem persönlichen Antheil des Herrschers
und seiner einzelnen Staatsminister ist weniger die Rede, als es sein könnte.
Auch die ganze Originalität der Person Friedrich Wilhelm's I. zeigt er uns
nicht. Dagegen werden selbst jene Kritiker zugeben müssen, daß Friedrich's II-
persönliche Figur und Wesen zu zeichnen von Droysen nicht verschmäht
worden ist.

Die auswärtige Politik ist, wie gesagt, der Hauptinhalt dieses Werkes:
auf diesem Gebiete hat Droysen das Verdienst, ganze Abschnitte neu geschaffen,
ganze Kapitel preußischer Geschichte neu entdeckt zu haben. Und wenn er
auch bisweilen die inneren Verhältnisse berührt, so erregt doch grade sein


eigener ist, ganz besonders wirksame Säfte und Kräfte: Ton und Farbe der
ganzen Darstellung wird und bleibt eine nationale Schöpfung: so manche
nationale Eigenschaft und Bestrebung wird nur von dem Geiste der eigenen
Nation und aus dem Geiste derselben begriffen und verstanden. Droysen's
Methode fechten wir nicht in ihrer Berechtigung an; wohl aber behaupten
wir, daß sie nicht die einzig berechtigte sei: die universale Auffassung, die es
versteht von verschiedenen Standpunkten aus eine Sache zu sehen und aus
dem Zusammenwirken der vielseitigen Bilder das Endresultat und Endurtheil
zu gewinnen, sie ist nicht nur neben der Droysen'schen Weise berechtigt, sondern
sie hat auch den Vorrang vor ihr zu behaupten.

Eine andere Eigenthümlichkeit Droysen's ist neuerdings wiederholt be¬
merkt worden. Seine Erzählung ist bemüht, sich möglichst genau dem akten¬
mäßigen Verlaufe der Ereignisse anzuschließen; er geht jeder Windung und
Biegung seiner Straße gewissenhaft nach; von Monat zu Monat, oft von
Tag zu Tag begleitet er jede kleine Abwandlung, welche die politischen Ge¬
schäfte durchmachen, mit aufmerksamer Feder. Also beachtet er nicht immer
die Grenzlinie, die das Geschäft von der Geschichte scheidet. Bei besonders
wichtigen Gelegenheiten ist es natürlich jedes Historikers Bestreben, möglichst
ins Detail der historischen Vorgänge zu dringen; aber durchgehends diese
minutiöse tagebuchartige Erzählung festzuhalten ist ebenso ermüdend als es
von dem eigentlichen Verständnisse der Geschichte ableitet. Des Historikers
Sache ist es aus dem unabsehbaren Meere der täglich vor sich gehenden That¬
sachen das zu wählen, was wirklich Geschichte ist: nicht alles was geschieht,
ist deßhalb auch Geschichte. Aus der Fülle seines Materials theilt Droysen
oft zu viel mit; sein Leser verliert die Straße, die er wandeln soll: er geht
unter bei allen den auf ihn einstürmenden Eindrücken und Gesichtspunkten
und Erwägungen.

Droysen's Darstellung des großen Kurfürsten ist von mehreren Historikern
der Vorwurf gemacht worden, daß bei seiner Betonung der „Politik" die
Persönlichkeit des Kurfürsten nicht zu vollem Ausdrucke gelangt. Dieser
Einwand ist nicht unbegründet. Von dem persönlichen Antheil des Herrschers
und seiner einzelnen Staatsminister ist weniger die Rede, als es sein könnte.
Auch die ganze Originalität der Person Friedrich Wilhelm's I. zeigt er uns
nicht. Dagegen werden selbst jene Kritiker zugeben müssen, daß Friedrich's II-
persönliche Figur und Wesen zu zeichnen von Droysen nicht verschmäht
worden ist.

Die auswärtige Politik ist, wie gesagt, der Hauptinhalt dieses Werkes:
auf diesem Gebiete hat Droysen das Verdienst, ganze Abschnitte neu geschaffen,
ganze Kapitel preußischer Geschichte neu entdeckt zu haben. Und wenn er
auch bisweilen die inneren Verhältnisse berührt, so erregt doch grade sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/454>, abgerufen am 28.07.2024.